12.09.2024

Passivlegitimation: Wie lange dauert die Erstversorgung durch den Durchgangsarzt?

Maßnahmen der Erstversorgung können je nach Fallkonstellation auch (nur) vom Durchgangsarzt selbst erbracht werden. So gehen die Arbeitshinweise für den Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger ganz selbstverständlich von vom Durchgangsarzt im Rahmen der Erstversorgung durchgeführten Behandlungsmaßnahmen wie z.B. Wundversorgung, Verbände und Injektionen aus. Die der öffentlich-rechtlichen Amtsausübung des Durchgangsarztes zuzuordnende Erstversorgung findet regelmäßig zeitlich vor dessen Entscheidung über die Art der Heilbehandlung statt.

BGH v. 30.7.2024 - VI ZR 115/22
Der Sachverhalt:
Die zum damaligen Zeitpunkt achtjährige Klägerin war auf dem Schulhof gestürzt. Sie kam am Spätnachmittag in Begleitung ihrer Mutter in die Klinik der Beklagten. Dort wurde u.a. eine Unterarmfraktur diagnostiziert. Gegen 17 Uhr fand ein Aufklärungsgespräch mit der Klägerin und ihrer Mutter zur geplanten operativen Knochenbruchsbehandlung statt. Um ca. 20 Uhr ging es in den OP-Saal. Um 22.45 Uhr wurde die Klägerin auf die Normalstation verlegt. Bei der Operation wurde ein die Wachstumsfuge kreuzender sog. Kirschner-Draht zur Fixierung und Stabilisierung eingebracht. Die Klägerin wurde am Tag danach entlassen. Einige Wochenspäter wurde der Kirschner-Draht entfernt.

In dem Durchgangsarztbericht betreffend die Klägerin vom 20.6.2012, in dem u.a. als Durchgangsarzt der Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie der Beklagten aufgeführt war, wurde das Schulunfallereignis vom gleichen Tag kurz geschildert und auf 15.20 Uhr datiert. Fortan stritten die Parteien insbesondere über die medizinische Indikation des Eingriffs, die Frage der vollständigen ärztlichen Aufklärung und etwaige Behandlungsfehler beim Eingriff, die gesundheitliche Beeinträchtigungen im Bereich des rechten Handgelenks hervorgerufen haben sollen.

Das LG hat die Klage auf materiellen und immateriellen Schadensersatz abgewiesen, da es sich nicht vom Vorliegen von Behandlungsfehlern überzeugen konnte und von einer wirksamen Einwilligung nach ordnungsgemäßer Aufklärung ausgegangen ist. Das OLG hat die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin wegen fehlender Passivlegitimation der Beklagten zurückgewiesen. Auf die Revision der Klägerin hat der BGH den Beschluss aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gründe:
Die Vorinstanz hat den Begriff der "Erstversorgung" rechtsfehlerhaft verkannt und darüber hinaus den Eintragungen des Arztes im Durchgangsarztbericht für die Qualifizierung der streitgegenständlichen Maßnahmen zu Unrecht eine maßgebliche Bedeutung zugesprochen.

Die Erstversorgung wird in § 27 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII als Teil der Heilbehandlung genannt. In § 9 des gem. § 34 Abs. 3 SGB VII abgeschlossenen Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger wird ausgeführt, dass die Erstversorgung die ärztlichen Leistungen umfasst, die den Rahmen des sofort Notwendigen nicht überschreiten. Sie ist von der durch den Unternehmer zu erbringenden Ersten Hilfe (§§ 14 Abs. 1, 15 Abs. 1 Nr. 5 SGB VII) abzugrenzen. Maßnahmen der Erstversorgung können je nach Fallkonstellation auch (nur) vom Durchgangsarzt selbst erbracht werden. So gehen die Arbeitshinweise für den Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger ganz selbstverständlich von vom Durchgangsarzt im Rahmen der Erstversorgung durchgeführten Behandlungsmaßnahmen wie z.B. Wundversorgung, Verbände und Injektionen aus. Die der öffentlich-rechtlichen Amtsausübung des Durchgangsarztes zuzuordnende Erstversorgung findet regelmäßig zeitlich vor dessen Entscheidung über die Art der Heilbehandlung statt. Davon zu unterscheiden sind Maßnahmen, die zeitlich nach und in Vollzug der Entscheidung über die Art der Heilbehandlung durchgeführt werden und grundsätzlich als privatrechtliches Handeln des Durchgangsarztes zu qualifizieren sind.

Infolgedessen lag die Operation der Klägerin nicht mehr im Rahmen des sofort Notwendigen, auch wenn sie von der Beklagten als "Notoperation" bezeichnet worden war. Gegen eine Qualifikation der Operation als Maßnahme der Erstversorgung sprach entgegen der Auffassung des OLG bereits der Zeitablauf zwischen dem Eintreffen der Klägerin in der Notaufnahme und dem Beginn der Operation. Dadurch, dass der eigentliche Eingriff erst gegen 20.00 Uhr begonnen hatte, war davon auszugehen, dass es sich bei der Operation nicht um eine unaufschiebbare Maßnahme gehandelt hat. Dass der Unfallversicherungsträger Hauptkostenträger der ärztlichen Behandlung war, blieb für die Frage nach dem Umfang der Erstversorgung unerheblich.

Etwas anderes ergab sich auch nicht aus der Eintragung im Durchgangsarztbericht, die die Operation in dem Textfeld "Art der Erstversorgung (durch den D-Arzt)" und in dem Textfeld "Art der Heilbehandlung" lediglich "durch mich" und "besondere Heilbehandlung" "stationär" auswies. Zwar hat der Senat in seiner Entscheidung vom 29.11.2016 (VI ZR 208/15) darauf hingewiesen, dass die Dokumentation der Erstversorgung durch den Durchgangsarzt bei der Abgrenzung zwischen öffentlich-rechtlichem und privatrechtlichem Handeln helfen kann. Das bedeutet aber nicht, dass der Zeitpunkt dieser Entscheidung und die Beantwortung der Frage, welche Maßnahmen noch der Vorbereitung der Entscheidung dienen und/oder noch der Erstversorgung zuzurechnen sind, zur freien Disposition des Durchgangsarztes stehen.

Somit schien im Streitfall die Zuordnung der Operation (und ihrer Aufklärungen) zur Erstversorgung trotz der Entscheidung für eine besondere Heilbehandlung stationär nicht mehr vertretbar. Der Durchgangsarzt hatte im Entscheidungsprozess für die Weichenstellung zur Art der Heilbehandlung offenkundig den Begriff der Erstversorgung verkannt und ihm Maßnahmen zugeordnet, die zu der besonderen Heilbehandlung gehören und die sich hier faktisch bereits als Vollzug einer zuvor konkludent getroffenen, aber nicht offengelegten Entscheidung für die besondere Heilbehandlung darstellten. Daher war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das OLG zurückzuverweisen, da sich dieses - aus seiner Sicht folgerichtig - bisher nicht mit den Fragen einer persönlichen Haftung der Beklagten befasst hat.

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Aufsatz
Rüdiger Martis / Martina Winkhart-Martis
Arzthaftungsrecht: Aktuelle Rechtsprechung zur Aufklärung des Patienten
MDR 2024, 412

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