Treaty Override: Überschreibung von DBA durch innerstaatliche Gesetze verfassungsrechtlich zulässig
BVerfG 15.12.2015, 2 BvL 1/12In dem - zwischenzeitlich nicht mehr gültigen - Doppelbesteuerungsabkommen DBA-Türkei 1985 haben Deutschland und die Türkei u.a. vereinbart, dass Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, die in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtige Personen in der Türkei erzielen, von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer ausgenommen werden und nur bei der Festsetzung des Steuersatzes für andere Einkünfte berücksichtigt werden dürfen.
Nach § 50d Abs. 8 S. 1 EStG in der seit dem Steueränderungsgesetz 2003 bis heute gültigen Fassung wird die Freistellung "ungeachtet des Abkommens nur gewährt, soweit der Steuerpflichtige nachweist, dass der Staat, dem nach dem Abkommen das Besteuerungsrecht zusteht, auf dieses Besteuerungsrecht verzichtet hat oder dass die in diesem Staat auf die Einkünfte festgesetzten Steuern entrichtet wurden".
In dem vorliegenden finanzgerichtlichen Verfahren wenden sich die Kläger, gemeinsam veranlagte Eheleute, gegen den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2004. Der Ehemann erzielte Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, und zwar zum Teil in Deutschland und tweilweise in der Türkei. Die Eheleute erbrachten den Nachweis, dass die in der Türkei erzielten Einkommensbestandteile dort versteuert worden wären oder die Türkei auf die Besteuerung verzichtet hätte, nicht. Das Finanzamt behandelte daraufhin den gesamten Bruttoarbeitslohn als steuerpflichtig.
Das FG wies die Klage ab. Der BFH setzte das Revisionsverfahren aus, um die Entscheidung des BVerfG darüber einzuholen, ob § 50d Abs. 8 S. 1 EStG mit dem GG vereinbar ist.
Die Gründe:
§ 50d Abs. 8 S. 1 EStG ist verfassungsgemäß
Aus Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG folgt, dass völkerrechtlichen Verträgen, soweit sie nicht in den Anwendungsbereich einer anderen, spezielleren Öffnungsklausel - insbesondere Art. 23 bis 25 GG - fallen, innerstaatlich der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zukommt und sie insofern keinen Übergesetzes- oder Verfassungsrang besitzen. Sie können durch spätere, ihnen widersprechende Bundesgesetze verdrängt werden.Es kann also zu einem Auseinanderfallen von innerstaatlich wirksamem Recht und völkerrechtlichen Verpflichtungen kommen. Der völkerrechtlich anerkannte Grundsatz "pacta sunt servanda" (Verträge sind einzuhalten), beschreibt zwar eine besondere (völkerrechtliche) Pflichtenstellung des Staates gegenüber dem Vertragspartner, sagt jedoch nichts über die innerstaatliche Geltung und den Rang völkerrechtlicher Verträge. Er bewirkt nicht, dass alle Bestimmungen völkerrechtlicher Verträge zu allgemeinen Regeln des Völkerrechts i.S.v. Art. 25 GG werden, die den einfachen Gesetzen vorgehen.
Der Grundsatz, dass ein (Bundes-)Gesetz durch ein späteres, ihm widersprechendes Gesetz verdrängt wird ("lex posterior derogat legi priori"), wird durch Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG nicht außer Kraft gesetzt. Die gegenteilige Auffassung widerspricht insbesondere dem Demokratieprinzip und dem Grundsatz der parlamentarischen Diskontinuität. Das Völkerrecht schließt die innerstaatliche Wirksamkeit völkerrechtswidriger Rechtsakte nicht aus. Es fordert zwar von den Staaten die Erfüllung der zwischen ihnen geschlossenen Verträge nach Treu und Glauben (Art. 26 der Wiener Vertragsrechtskonvention, WVRK). Es schließt allerdings nur aus, dass ein Staat unter Berufung auf innerstaatliches Recht die Verletzung einer völkerrechtlichen Pflicht auf völkerrechtlicher Ebene rechtfertigen kann (Art. 27 S. 1 WVRK). Insoweit überlässt es das Völkerrecht den Staaten, die innerstaatlichen Rechtsfolgen einer Kollision zwischen einem völkerrechtlichen Vertrag und einem Gesetz nach den entsprechenden Rang- und Kollisionsregeln des nationalen Rechts zu regeln und dem nationalen Recht den Vorrang einzuräumen.
Die Verfassungswidrigkeit völkervertragswidriger Gesetze lässt sich auch nicht unter Rückgriff auf den ungeschriebenen Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG begründen. Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit hat Verfassungsrang. Er ergibt sich aus einer Zusammenschau der verfassungsrechtlichen Vorschriften, die das Verhältnis Deutschlands zur internationalen Staatengemeinschaft zum Gegenstand haben (insbesondere Art. 23 bis 26 und Art. 59 Abs. 2 GG). Die Bestimmungen enthalten eine Verfassungsentscheidung für eine auf die Achtung und Stärkung des Völkerrechts aufbauende zwischenstaatliche Zusammenarbeit. Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG beinhaltet jedoch keine verfassungsrechtliche Pflicht zur uneingeschränkten Befolgung aller völkerrechtlichen Verträge.
Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG kann daher nicht völkerrechtsfreundlich dahingehend ausgelegt werden, dass sich der Gesetzgeber nur in Ausnahmefällen, und zwar allein um einen Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden, über völkervertragliche Bindungen hinwegsetzen dürfte. Eine solche Auslegung ist methodisch nicht vertretbar. Dies wird mit Blick auf die verschiedenen DBA besonders deutlich: Da DBA regelmäßig nicht gegen tragende Grundsätze der Verfassung verstoßen, hätten sie de facto - wie die allgemeinen Regeln des Völkerrechts - regelmäßig einen Rang über den Gesetzen. Eine solche Gleichsetzung widerspräche jedoch der in Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 GG getroffenen Unterscheidung des Verfassungsgebers. Im Übrigen liegt auch kein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip vor.
Nach alldem verstößt § 50d Abs. 8 S. 1 EStG - unabhängig davon, ob er in der Sache tatsächlich eine Abkommensüberschreibung enthält - nicht gegen das GG. Das DBA-Türkei 1985 ist ein völkerrechtlicher Vertrag. Maßstab für die verfassungsrechtliche Prüfung einer Überschreibung des DBA ist daher Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG. Da der Gesetzgeber gem. Art. 20 Abs. 3 GG nur an die verfassungsmäßige Ordnung, nicht aber an einfache Gesetze gebunden ist, kann er das Zustimmungsgesetz zu dem DBA-Türkei 1985 ungeachtet der fortbestehenden völkerrechtlichen Verbindlichkeit durch den Erlass von Gesetzen, die dem im DBA Vereinbarten inhaltlich widersprechen, aufheben oder ändern. § 50d Abs. 8 S. 1 EStG ist auch mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Die in der Regelung enthaltenen Ungleichbehandlungen sind durch einen hinreichenden sachlichen Grund gerechtfertigt, weil der Gesetzgeber mit der in § 50d Abs. 8 S. 1 EStG angeordneten Nachweisplicht der bei der Freistellung von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit im Vergleich zu sonstigen Einkunftsarten erhöhten Missbrauchsgefahr entgegenwirken wollte.
Besonderheit:
Die Richterin König hat ihre abweichende Meinung in einem Sondervotum zu dem Beschluss dargelegt. Ihrer Ansicht nach ist § 50d Abs. 8 S. 1 EStG 2002 in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 2003 nicht mit dem GG vereinbar. Es handele sich um eine völkerrechtswidrige Abkommensüberschreibung.
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