Anwendung des Substanzwertverfahrens bei Ableitung des gemeinen Werts einer Kapitalgesellschaft aus Verkäufen
Die Beteiligten streiten darüber, ob der gemeine Wert eines Anteils an einer GmbH gem. § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG aus Einziehungen von Geschäftsanteilen abgeleitet werden kann. Die Kläger (Kl.) sind die Erben ihrer am 23.11.2014 verstorbenen Mutter. Zum Nachlass der Erblasserin gehörte eine Beteiligung an der GmbH im Nennbetrag von 511.516 € (entspricht rd. 9,95 %).
In der ordentlichen Gesellschafterversammlung der GmbH am 7.2.2015 wurde ein Beschluss über die Einziehung von Teilgeschäftsanteilen gefasst. Danach wurde die Geschäftsführung bis auf Widerruf beauftragt, Einziehungen gegen Zahlung eines Einziehungsentgelts zu einem Einziehungskurs von 400 % zu veranlassen, sofern der GmbH Geschäftsanteile oder Teilgeschäftsanteile im Nominalwert von mindestens 52.000 € angeboten werden. Die eingezogenen Anteile sollten jeweils die verbleibenden Geschäftsanteile verhältniswahrend aufstocken. Anschließend boten zwei Gesellschafterinnen der GmbH in der gleichen Gesellschafterversammlung von ihren jeweiligen Beteiligungen im Umfang von 492.297 € je einen Teilgeschäftsanteil i.H.v. 52.000 € zur Einziehung an. Dieses Angebot wurde umgehend angenommen und umgesetzt.
Die Kl. erklärten den Wert des erworbenen Gesellschaftsanteils auf Basis der umgesetzten Einziehung im Wege der Ableitung aus Verkäufen i.S.d. § 11 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 BewG. Das FA setzte nach Durchführung einer Betriebsprüfung den deutlich höheren Substanzwert gem. § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG an, da eine Ableitung aus Verkäufen bei einer Einziehung von Anteilen nicht möglich sei. Mit ihrer Klage verfolgen die Kl. ihr Begehren weiter, den Wert des Anteils am Betriebsvermögen der GmbH aus den Einziehungen vom 7.2.2015 abzuleiten und wie erklärt festzustellen.
Das FG Münster hat die Klage als unbegründet angesehen. Eine freiwillige Einziehung von GmbH-Anteilen kann grundsätzlich einen Verkauf i.S.d. § 11 Abs. 2 Satz 2 ErbStG darstellen. Auch bei einer Ableitung des gemeinen Werts einer Kapitalgesellschaft aus Verkäufen ist jedoch der Substanzwert gem. § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG als Mindestwert zu beachten. Daher habe die Beklagte den gemeinen Wert des Anteils der Erblasserin an der GmbH zutreffend anhand des Substanzwerts der Gesellschaft nach § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG ermittelt.
Freiwillige Einziehung grundsätzlich als Verkauf anzusehen: Nach Auffassung des Senats sprechen durchaus Gründe dafür, zumindest für den Fall einer freiwilligen Einziehung eines (Teil-)Geschäftsanteils, einen verkaufsähnlichen Vorgang anzunehmen. Es liege grundsätzlich im freien Ermessen eines einziehungswilligen Gesellschafters, das bis auf Widerruf bestehende Angebot der Gesellschaft zu Einziehung zum Einziehungskurs von 400 % anzunehmen, sofern er dies für marktgerecht hält und er einen stets zulässigen Verkauf an Mitgesellschafter oder einen zustimmungsbedürftigen Verkauf an Dritte zu besseren Konditionen nicht erzielen kann oder er einen solchen für nicht erzielbar erachtet.
Die Beschlussfassung über die Einziehung knapp elf Wochen nach dem maßgeblichen Stichtag könnte zudem die Voraussetzung für die Anerkennung eines nach dem Stichtag liegenden Verkaufs nach der Rspr. des BFH, wonach bei vorheriger Einigung über den Kaufpreis der Vertragsabschluss „kurz“ nach dem Bewertungsstichtag erfolgt sein muss, worunter eine nach Wochen zu bemessende Zeitspanne zu verstehen ist (vgl. BFH v. 16.5.2003 – II B 50/02, BFH/NV 2003, 1150 m.w.N.), noch erfüllen.
Jedoch sei – auch wenn die Einziehungen maßgebliche Verkäufe unter fremden Dritten i.S.d. § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG darstellen würden – nach § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG der Substanzwert stets als Mindestwert anzusetzen. Der Substanzwert bildet bei der Bewertung von Anteilen an Kapitalgesellschaften die untere Grenze (BFH v. 27.9.2017 – II R 15/15, BFHE 260, 75 = ErbStB 2018, 107 [E. Böing]). Dies gilt nach Auffassung des Senats auch dann, wenn der Steuerpflichtige die Ableitung des gemeinen Werts aus Verkäufen unter fremden Dritten geltend macht (entgegen R B 11.3 Abs. 1 Satz 2 ErbStR 2011, entspr. für nach dem Stichtag liegende Zeiträume in R B 11.3 Abs. 2 Satz 3 und R B 11.5 Abs. 1 ErbStR 2019).
In der Literatur wird unter Verweis auf die Verwaltungsauffassung vertreten, dass sich der tatsächlich erzielte Kaufpreis nachweislich am Markt gebildet habe und daher den gemeinen Wert abbilde, sodass der Ansatz des Substanzwerts als Mindestwert ausgeschlossen sei (vgl. z.B. Mannek in Stenger/Loose, Bewertungsrecht, Stand: 154. EL 3/2021, § 11 BewG Rz. 188 ff. und Rz. 310; s. Viskorf in Viskorf/Schuck/Wälzholz, ErbStG/BewG, 5. Aufl. 2017, § 11 BewG Rz. 82).
Diese Ansicht wird teilweise damit begründet, dass es keine Fälle geben dürfe, in welchen der aus Verkäufen im gewöhnlichen Geschäftsverkehr abgeleitete Preis unterhalb des Substanzwerts liege, wenn der Steuerpflichtige – wie es die Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 16/7918, 38) postuliere – am Markt stets mindestens den Substanzwert erzielen könne (Kreutziger/Jacob in Kreutziger/Schaffner/Stephany, § 11 BewG Rz. 90).
Diese Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG ergibt sich nach Ansicht des FG Münster jedoch weder aus dem Wortlaut der Norm noch aus der Systematik des Gesetzes (vgl. auch Krumm in Leingärtner, Besteuerung der Landwirte, Kap. 94 Rz. 40; Wollny, DStR 2012, 766; offengelassen FG Düsseldorf v. 3.4.2019 – 4 K 2524/16 F, EFG 2019, 1163 = ErbStB 2019, 194 [Knittel]).
Auch mit der Gesetzesbegründung lässt sich nach Auffassung des FG Münster eine entspr. einschränkende Auslegung nach Ansicht des Senats nicht begründen. Der Gesetzgeber habe dort unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass „Untergrenze … stets der Substanzwert als Mindestwert [ist], den ein Steuerpflichtiger am Markt erzielen könnte“ (BT-Drucks. 16/7918, 38).
Der Auffassung des FG Münster ist entgegenzuhalten, dass die einschränkende Auffassung der Finanzverwaltung den Steuerpflichtigen vor den Typisierungsunschärfen des Substanzwertverfahrens schützen soll. Gegen den Substanzwert ist keine gesetzliche Möglichkeit eines Nachweises eines niedrigeren gemeinen Werts durch ein Gutachten eröffnet. Gleichzeitig stellt der unter fremden Dritten erzielte Kaufpreis den wahrscheinlichsten gemeinen Wert für einen Vermögensgegenstand dar. Insofern besteht bei Anwendung der Rechtsauffassung des FG Münsters das erhebliche Risiko, dass ein Anteil einer Überbewertung zugeführt wird. Allenfalls im Vergleich mit dem ebenfalls typisiert ermittelten Wert nach dem vereinfachten Ertragswertverfahren oder einem im Schätzungswege ermittelten Gutachtenwert ist dieses Risiko m.E. vom Steuerpflichtigen hinzunehmen.
Die Revision wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache und zur Fortbildung des Rechts zugelassen.
FG Münster v. 15.4.2021 – 3 K 3724/19 F (Rev. II R 15/21), ErbStB 2021, 209