Arbeitnehmer in Elternzeit dürfen beim Massenentlassungsschutz nicht benachteiligt werden - Erweiterung des Entlassungsbegriffs
BAG 26.1.2017, 6 AZR 442/16Die Beklagte, eine Fluggesellschaft, stellte Ende 2009 sämtliche Tätigkeiten in Deutschland ein und kündigte im Rahmen einer Massenentlassung allen Arbeitnehmern. Die Kündigungen erwiesen sich im Nachhinein mangels einer ordnungsgemäßen Konsultation des Betriebsrats gem. § 17 KSchG als unwirksam.
Die Klägerin befand sich seinerzeit in Elternzeit. Erst nachdem die für den Arbeitsschutz zuständige oberste Landesbehörde die Kündigung während der Elternzeit nach § 18 Abs.1 Satz 2 u. 3 BEEG a.F. für zulässig erklärt hatte, kündigte die Beklagte im März 2010 und damit außerhalb des 30-Tage-Zeitraums i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG auch ihr Arbeitsverhältnis.
Die hiergegen erhobene Kündigungsschutzklage hatte sowohl vor dem Arbeitsgericht als auch vor dem LAG und dem BAG keinen Erfolg. Auf die Verfassungsbeschwerde der Klägerin hob das Bundesverfassungsgericht das Urteil des BAG auf und verwies den Rechtsstreit zurück, weil es die Klägerin in ihren Grundrechten aus Art. 3 i.V.m. Art. 6 GG verletze (BVerfG, Beschl. v. 8.6.2016 - 1 BvR 3634/13). Im zweiten Rechtsgang hatte die Revision der Klägerin vor dem BAG Erfolg.
Die Gründe:
Das Arbeitsverhältnis der Klägerin ist durch die Kündigung der Beklagten vom 10.3.2010 nicht aufgelöst worden.
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Klägerin unzulässig wegen der von ihr in Anspruch genommenen Elternzeit und wegen ihres Geschlechts benachteiligt wird, wenn ihr der Schutz vor Massenentlassungen nur deshalb versagt wird, weil das Abwarten der wegen der Elternzeit notwendigen behördlichen Zustimmung zur Kündigung dazu geführt hat, dass die Kündigung erst nach Ablauf des 30-Tage-Zeitraums erklärt wurde. In diesen Fällen gelte der 30-Tage-Zeitraum auch dann als gewahrt, wenn die Antragstellung auf Zustimmung der zuständigen Behörde zur Kündigung innerhalb dieses Zeitraums erfolgt sei.
An diese nationalrechtliche Erweiterung des Entlassungsbegriffs bei Massenentlassungen durch das Bundesverfassungsgericht ist der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts gebunden. Das gilt ungeachtet der Probleme, die u.a. dann entstehen, wenn die behördliche Zustimmung erst außerhalb der 90-tägigen Freifrist des § 18 Abs. 4 KSchG erteilt wird oder wenn bei einer Arbeitnehmerin in Elternzeit die Kündigung als solche zugleich Teil einer zweiten, § 17 KSchG unterfallenden Welle von Kündigungen ist.
Der Hintergrund:
Möchte der Arbeitgeber innerhalb von 30 Kalendertagen eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern entlassen, so muss er sich nach § 17 KSchG mit dem Betriebsrat beraten und die Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit anzeigen. Dieser durch § 17 KSchG gewährleistete Schutz ist europarechtlich durch die Richtlinie 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie) determiniert.
Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 27.1.2005 - Rs. C-188/03 - "Junk") ist unter "Entlassung" die Kündigungserklärung zu verstehen. Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung hatte der Sechste Senat die im Streitfall zu beurteilende Kündigung ursprünglich als wirksam erachtet, weil die Kündigung erst nach Ablauf des 30-Tage-Zeitraums erklärt worden war und damit kein Massenentlassungsschutz (mehr) bestand.
Die Rechtsprechungsänderung dürfte sich auch auf andere Kündigungen, die nur mit behördlicher Zustimmung ausgesprochen werden können, auswirken.
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Der Volltext der Entscheidung wird demnächst auf den Webseiten des BAG veröffentlicht. Für die Pressemitteilung des BAG klicken Sie bitte hier.