Auch die Allgemeinverbindlicherklärungen der Tarifverträge über das Sozialkassenverfahren des Baugewerbes aus 2012 und 2013 sind unwirksam
BAG 25.1.2017, 10 ABR 43/15 u. 10 ABR 34/15Auf Antrag der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes hatte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) 2012 und 2013 die jeweilige Tarifverträge über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe gem. § 5 TVG in der damals geltenden Fassung für allgemeinverbindlich erklärt. Dies war jeweils mit Einschränkungen bezüglich des betrieblichen Geltungsbereichs ("Große Einschränkungsklausel") erfolgt.
Bei den Antragstellern handelt es sich überwiegend um Arbeitgeber, die nicht Mitglied einer Arbeitgebervereinigung sind und deshalb nur auf Grundlage der Allgemeinverbindlicherklärungen zu Beitragszahlungen herangezogen wurden. Sie vertraten die Auffassung, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung nicht vorgelegen hätten. Insbesondere hätten die tarifgebundenen Arbeitgeber der Baubranche nicht 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigt.
Das LAG wies die Anträge zurück. Die von ihm zugelassenen Rechtsbeschwerden hatten vor dem BAG Erfolg.
+++ Die Gründe:
Die Allgemeinverbindlicherklärungen sind unwirksam.
Es gibt es keine tragfähige Grundlage für die Annahme des Bundesministeriums Arbeit und Soziales (BMAS), dass zum Zeitpunkt des Erlasses der AVE VTV 2012 und 2013 in der Baubranche mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt waren. Insbesondere durfte die in den jeweiligen AVE vorgenommene Einschränkung des betrieblichen Geltungsbereichs - entgegen der Auffassung des BMAS - bei der Berechnung der 50-Prozent-Quote nicht berücksichtigt werden.
Die AVE VTV 2013 II ist überdies unwirksam, weil die damals zuständige Ministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen, nicht mit dem Normsetzungsakt befasst war. Darin liegt ein Verstoß gegen das in Art. 20 GG verankerte Demokratieprinzip.
Die Feststellung der Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen wirkt zwar gem. § 98 Abs. 4 ArbGG für und gegen jedermann. Sie hat deshalb zur Folge, dass im maßgeblichen Zeitraum nur für tarifgebundene Arbeitgeber eine Beitragspflicht zu den Sozialkassen des Baugewerbes bestand. Andere Arbeitgeber der Baubranche sind nicht verpflichtet, für diesen Zeitraum Beiträge zu leisten. Rechtskräftig abgeschlossene Klageverfahren über Beitragsansprüche werden aber von der Feststellung der Unwirksamkeit nicht berührt; eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 580 ZPO ist insoweit nicht möglich.
Ob im Übrigen unter Beachtung der Verjährungsfristen wechselseitige Rückforderungsansprüche hinsichtlich erbrachter Beitrags- und Erstattungsleistungen bestehen und ob die Feststellung der Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen einer Vollstreckung von Beitragsansprüchen aus rechtskräftigen Entscheidungen entgegensteht, hatte der Senat nicht zu entscheiden.
+++ Der Hintergrund:
Die für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge regeln das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe. Bei den Sozialkassen handelt es sich um gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes. Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse erbringt Leistungen im Urlaubs- und Berufsbildungsverfahren, die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes zusätzliche Altersversorgungsleistungen, die jeweils in gesonderten Tarifverträgen näher geregelt sind. Zur Finanzierung dieser Leistungen werden nach Maßgabe des VTV Beiträge von den Arbeitgebern erhoben.
Durch die Allgemeinverbindlicherklärungen gelten die Tarifverträge nicht nur für die tarifgebundenen Mitglieder der Tarifvertragsparteien, sondern auch für alle anderen Arbeitgeber der Branche.
+++ Linkhinweis:
Die Volltexte der Entscheidungen werden demnächst auf den Webseiten des BAG veröffentlicht.
Für die Pressemitteilung des BAG in dem Verfahren mit dem Aktenzeichen 10 ABR 43/15 zur AVE VTV 2012 klicken Sie bitte hier.
Die Pressemitteilung des BAG in dem Verfahren mit dem Aktenzeichen 10 ABR 34/15 zur AVE VTV 2013 finden Sie hier.