Ausschlussfrist bei möglicher Benachteiligung wegen Schwerbehinderung und mittelbar wegen des Alters
BAG v. 25.7.2024 - 8 AZR 21/23
Der Sachverhalt:
Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger hatte im Jahr 2009 der Technischen Fachhochschule (TFH) im Fachbereich Ingenieurwesen/Wirtschaftsingenieurwesen Luftfahrttechnik/Luftfahrtlogistik einen Abschluss als Master of Engineering gemacht. Im Herbst 2019 hatte das beklagte Bundesministerium eine Stelle für einen Sachbereichsleiter/eine Sachbereichsleiterin ausgeschrieben. Als besonderer Hinweis wurde angeführt, dass schwerbehinderte Menschen bei gleicher fachlicher Eignung bevorzugt eingestellt würden. Es würde nur ein Mindestmaß an körperlicher Eignung verlangt.
Der Kläger bewarb sich am 11.10.2019 auf die ausgeschriebene Stelle unter Hinweis auf seine Schwerbehinderung. Mit Schreiben vom 4.2.2020 erhielt er eine Absage. Mit Schreiben vom 23.3.2020 verlangte der Kläger unter Hinweis auf die Verpflichtung öffentlicher Arbeitgeber, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, Auskunft über "die Gründe der Abwägung insoweit ... als es zur Ausräumung des Verdachts auf Diskriminierung erforderlich und sinnvoll ist ...".
Durch Schreiben vom 2.4.2020 teilte die Beklagte dem Kläger mit, ausweislich seiner Bewerbungsunterlagen verfüge er weder über die Laufbahnbefähigung zum höheren nichttechnischen oder technischen Verwaltungsdienst noch über ein erfolgreich abgeschlossenes wissenschaftliches Masterstudium. Außerdem habe er keinen akkreditierten Studiengang absolviert. Infolgedessen habe es einer Einladung zu einem Vorstellungsgespräch nicht bedurft. Eine Verpflichtung, die Ablehnung seiner Bewerbung näher zu begründen, habe angesichts der im Geschäftsbereich des Bundesverkehrsministeriums übererfüllten gesetzlichen Quote für die Beschäftigung schwerbehinderter und gleichgestellter Menschen nicht bestanden.
Der Kläger machte daraufhin am 23.4.2020 Schmerzensgeld i.H.v. mind. 30.000 € wegen Diskriminierung aufgrund seiner Schwerbehinderung und aufgrund seines Alters geltend. Das Arbeitsgericht hat die am 26.5.2020 eingegangene Klage abgewiesen. Das LAG hat dies bestätigt. Auf die Revision des Klägers hat das BAG das Berufungsurteil teilweise aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen.
Die Gründe:
Entgegen der Auffassung des LAG ist der Klageanspruch nicht in vollem Umfang in Anwendung der Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG oder der Klagefrist des § 61b Abs. 1 ArbGG verfallen.
Zwar lag, soweit der Kläger Entschädigung aufgrund einer Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung verlangt hatte, bereits keine fristgerechte Geltendmachung i.S.v. § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG vor. Er konnte seinen Entschädigungsanspruch deshalb nicht mehr erfolgreich auf eine Benachteiligung wegen dieses Grundes stützen. Hinsichtlich der behaupteten Benachteiligung wegen des Alters hat der Kläger, da er von den Umständen, die insoweit einen etwaigen Kausalzusammenhang belegt haben, erst später Kenntnis erlangt hatte, nicht nur die Frist für die außergerichtliche Geltendmachung eingehalten. Er hat vielmehr auch die Klagefrist des § 61b Abs. 1 ArbGG gewahrt.
Nach § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG muss der Anspruch nach § 15 Abs. 2 AGG innerhalb einer Frist von zwei Monaten schriftlich geltend gemacht werden. Nach § 15 Abs. 4 Satz 2 AGG beginnt die Frist zu dem Zeitpunkt, in dem der Beschäftigte von der Benachteiligung Kenntnis erlangt. Nach § 61b Abs. 1 ArbGG muss eine Klage auf Entschädigung nach § 15 AGG innerhalb von drei Monaten, nachdem der Anspruch schriftlich geltend gemacht worden ist, erhoben werden. Sowohl bei der Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 AGG als auch bei der Klagefrist des § 61b Abs. 1 ArbGG handelt es sich um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist mit der Folge, dass der Anspruch verfällt, wenn eine der Fristen nicht eingehalten worden ist.
Der Kläger hatte durch das Ablehnungsschreiben vom 4.2.2020 Kenntnis von der Erfolglosigkeit seiner Bewerbung erlangt. Dabei setzt der Beginn der Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 AGG keine Kenntnis von der Motivlage des Arbeitgebers voraus. Der Kläger hat einen Anspruch aus § 15 Abs. 2 AGG erstmals durch das Schreiben vom 23.4.2020 geltend gemacht. Das Schreiben vom 23.3.2020 stellte inhaltlich keine Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs dar. Es enthielt insofern nicht typische Willenserklärungen. Eine inhaltlich ausreichende Geltendmachung lag zwar mit dem Schreiben des Klägers vom 23.4.2020 vor. Damit wurde die Zweimonatsfrist, gerechnet von dem Zeitpunkt des Zugangs des Ablehnungsschreibens an (§ 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 i.V.m. § 193 BGB), aber nicht gewahrt.
Demgegenüber ist der Anspruch des Klägers aus § 15 Abs. 2 AGG, soweit er geltend macht, die Beklagte habe ihn im Stellenbesetzungsverfahren wegen seines Alters benachteiligt, nicht verfallen. Insoweit ist sowohl die Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG als auch die Klagefrist des § 61b ArbGG eingehalten. Beide Verfahrenshandlungen münden letztlich in der Nichtberücksichtigung der Bewerbung, was zu einem einheitlichen Anspruch nach § 15 Abs. 2 AGG führt. Die durch die Klageerhebung begründete Rechtshängigkeit ist entgegen der Annahme des LAG auch nicht zwischen erster und zweiter Instanz i.S.v. § 321 Abs. 1 ZPO wieder entfallen. Das LAG hat sich, unter Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung konsequent, nicht mit der Frage befasst, ob darin, dass die Beklagte nach ihrem eigenen Vorbringen die Bewerbung des Klägers mangels Akkreditierung seines Masterstudiengangs an der THW bzw. mangels dahin gehenden Nachweises nicht berücksichtigt hat, eine den Kausalzusammenhang zwischen der Benachteiligung und dem Alter des Klägers belegende, mittelbare Altersdiskriminierung liegt.
Mehr zum Thema:
Aufsatz
Durchführung des Präventionsverfahrens zugunsten von Schwerbehinderten auch vor einer Kündigung während der Wartezeit?
Wolfgang Kleinebrink, ArbRB Blog 2024
ARBRBBLOG0008215
Rechtsprechung
Kündigung eines behinderten Menschen innerhalb der Wartezeit ohne vorheriges Präventionsverfahren
BAG vom 21.4.2016 - 8 AZR 402/14
Patrick Esser, ArbRB 2016, 294
Aktionsmodul Arbeitsrecht inkl. Otto Schmidt Answers
Otto Schmidt Answers spart Zeit. Die hochentwickelte KI beantwortet Fragen zum Arbeitsrecht im Handumdrehen und auf Basis rechtssicherer Quellen. Das Recherchieren von Literatur und Formulieren von Schriftsätzen ist schneller und einfacher als je zuvor. In Otto Schmidt Answers trifft Fachwissen auf Künstliche Intelligenz. Die praxisbewährte KI verbindet die fundierte Qualität der Literatur des Aktionsmoduls Arbeitsrecht mit der Power fortschrittlicher Sprachmodelle. 4 Wochen gratis nutzen!
BAG online
Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger hatte im Jahr 2009 der Technischen Fachhochschule (TFH) im Fachbereich Ingenieurwesen/Wirtschaftsingenieurwesen Luftfahrttechnik/Luftfahrtlogistik einen Abschluss als Master of Engineering gemacht. Im Herbst 2019 hatte das beklagte Bundesministerium eine Stelle für einen Sachbereichsleiter/eine Sachbereichsleiterin ausgeschrieben. Als besonderer Hinweis wurde angeführt, dass schwerbehinderte Menschen bei gleicher fachlicher Eignung bevorzugt eingestellt würden. Es würde nur ein Mindestmaß an körperlicher Eignung verlangt.
Der Kläger bewarb sich am 11.10.2019 auf die ausgeschriebene Stelle unter Hinweis auf seine Schwerbehinderung. Mit Schreiben vom 4.2.2020 erhielt er eine Absage. Mit Schreiben vom 23.3.2020 verlangte der Kläger unter Hinweis auf die Verpflichtung öffentlicher Arbeitgeber, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, Auskunft über "die Gründe der Abwägung insoweit ... als es zur Ausräumung des Verdachts auf Diskriminierung erforderlich und sinnvoll ist ...".
Durch Schreiben vom 2.4.2020 teilte die Beklagte dem Kläger mit, ausweislich seiner Bewerbungsunterlagen verfüge er weder über die Laufbahnbefähigung zum höheren nichttechnischen oder technischen Verwaltungsdienst noch über ein erfolgreich abgeschlossenes wissenschaftliches Masterstudium. Außerdem habe er keinen akkreditierten Studiengang absolviert. Infolgedessen habe es einer Einladung zu einem Vorstellungsgespräch nicht bedurft. Eine Verpflichtung, die Ablehnung seiner Bewerbung näher zu begründen, habe angesichts der im Geschäftsbereich des Bundesverkehrsministeriums übererfüllten gesetzlichen Quote für die Beschäftigung schwerbehinderter und gleichgestellter Menschen nicht bestanden.
Der Kläger machte daraufhin am 23.4.2020 Schmerzensgeld i.H.v. mind. 30.000 € wegen Diskriminierung aufgrund seiner Schwerbehinderung und aufgrund seines Alters geltend. Das Arbeitsgericht hat die am 26.5.2020 eingegangene Klage abgewiesen. Das LAG hat dies bestätigt. Auf die Revision des Klägers hat das BAG das Berufungsurteil teilweise aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen.
Die Gründe:
Entgegen der Auffassung des LAG ist der Klageanspruch nicht in vollem Umfang in Anwendung der Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG oder der Klagefrist des § 61b Abs. 1 ArbGG verfallen.
Zwar lag, soweit der Kläger Entschädigung aufgrund einer Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung verlangt hatte, bereits keine fristgerechte Geltendmachung i.S.v. § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG vor. Er konnte seinen Entschädigungsanspruch deshalb nicht mehr erfolgreich auf eine Benachteiligung wegen dieses Grundes stützen. Hinsichtlich der behaupteten Benachteiligung wegen des Alters hat der Kläger, da er von den Umständen, die insoweit einen etwaigen Kausalzusammenhang belegt haben, erst später Kenntnis erlangt hatte, nicht nur die Frist für die außergerichtliche Geltendmachung eingehalten. Er hat vielmehr auch die Klagefrist des § 61b Abs. 1 ArbGG gewahrt.
Nach § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG muss der Anspruch nach § 15 Abs. 2 AGG innerhalb einer Frist von zwei Monaten schriftlich geltend gemacht werden. Nach § 15 Abs. 4 Satz 2 AGG beginnt die Frist zu dem Zeitpunkt, in dem der Beschäftigte von der Benachteiligung Kenntnis erlangt. Nach § 61b Abs. 1 ArbGG muss eine Klage auf Entschädigung nach § 15 AGG innerhalb von drei Monaten, nachdem der Anspruch schriftlich geltend gemacht worden ist, erhoben werden. Sowohl bei der Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 AGG als auch bei der Klagefrist des § 61b Abs. 1 ArbGG handelt es sich um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist mit der Folge, dass der Anspruch verfällt, wenn eine der Fristen nicht eingehalten worden ist.
Der Kläger hatte durch das Ablehnungsschreiben vom 4.2.2020 Kenntnis von der Erfolglosigkeit seiner Bewerbung erlangt. Dabei setzt der Beginn der Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 AGG keine Kenntnis von der Motivlage des Arbeitgebers voraus. Der Kläger hat einen Anspruch aus § 15 Abs. 2 AGG erstmals durch das Schreiben vom 23.4.2020 geltend gemacht. Das Schreiben vom 23.3.2020 stellte inhaltlich keine Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs dar. Es enthielt insofern nicht typische Willenserklärungen. Eine inhaltlich ausreichende Geltendmachung lag zwar mit dem Schreiben des Klägers vom 23.4.2020 vor. Damit wurde die Zweimonatsfrist, gerechnet von dem Zeitpunkt des Zugangs des Ablehnungsschreibens an (§ 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 i.V.m. § 193 BGB), aber nicht gewahrt.
Demgegenüber ist der Anspruch des Klägers aus § 15 Abs. 2 AGG, soweit er geltend macht, die Beklagte habe ihn im Stellenbesetzungsverfahren wegen seines Alters benachteiligt, nicht verfallen. Insoweit ist sowohl die Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG als auch die Klagefrist des § 61b ArbGG eingehalten. Beide Verfahrenshandlungen münden letztlich in der Nichtberücksichtigung der Bewerbung, was zu einem einheitlichen Anspruch nach § 15 Abs. 2 AGG führt. Die durch die Klageerhebung begründete Rechtshängigkeit ist entgegen der Annahme des LAG auch nicht zwischen erster und zweiter Instanz i.S.v. § 321 Abs. 1 ZPO wieder entfallen. Das LAG hat sich, unter Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung konsequent, nicht mit der Frage befasst, ob darin, dass die Beklagte nach ihrem eigenen Vorbringen die Bewerbung des Klägers mangels Akkreditierung seines Masterstudiengangs an der THW bzw. mangels dahin gehenden Nachweises nicht berücksichtigt hat, eine den Kausalzusammenhang zwischen der Benachteiligung und dem Alter des Klägers belegende, mittelbare Altersdiskriminierung liegt.
Aufsatz
Durchführung des Präventionsverfahrens zugunsten von Schwerbehinderten auch vor einer Kündigung während der Wartezeit?
Wolfgang Kleinebrink, ArbRB Blog 2024
ARBRBBLOG0008215
Rechtsprechung
Kündigung eines behinderten Menschen innerhalb der Wartezeit ohne vorheriges Präventionsverfahren
BAG vom 21.4.2016 - 8 AZR 402/14
Patrick Esser, ArbRB 2016, 294
Aktionsmodul Arbeitsrecht inkl. Otto Schmidt Answers
Otto Schmidt Answers spart Zeit. Die hochentwickelte KI beantwortet Fragen zum Arbeitsrecht im Handumdrehen und auf Basis rechtssicherer Quellen. Das Recherchieren von Literatur und Formulieren von Schriftsätzen ist schneller und einfacher als je zuvor. In Otto Schmidt Answers trifft Fachwissen auf Künstliche Intelligenz. Die praxisbewährte KI verbindet die fundierte Qualität der Literatur des Aktionsmoduls Arbeitsrecht mit der Power fortschrittlicher Sprachmodelle. 4 Wochen gratis nutzen!