Darf eine öffentliche Einrichtung ihren Bediensteten das Tragen jedes sichtbaren Zeichens religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbieten?
EuGH, C-148/22: Schlussanträge des Generalanwalts vom 4.5.2023
Der Sachverhalt:
Mit zwei Einzelentscheidungen wurde einer Bediensteten der Gemeinde Ans (Belgien) untersagt, das islamische Kopftuch an ihrem Arbeitsplatz zu tragen. In diesem Zusammenhang änderte die Gemeinde dann ihre Dienstordnung und verpflichtet nunmehr ihre Bediensteten zur strikten Neutralität, wobei sie jede Form von Proselytismus verbietet und das Tragen von auffälligen Zeichen der ideologischen oder religiösen Zugehörigkeit untersagt. Nach Ansicht der Bediensteten verletzt die Gemeinde damit ihre Religionsfreiheit.
Nach Auffassung des Arbeitsgerichts Lüttich (Belgien), das von der Bediensteten angerufen wurde, stellt diese Regel keine unmittelbare Diskriminierung wegen religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen dar, aber dem Anschein nach eine auf diesen Kriterien beruhende mittelbare Diskriminierung.
Dieses Gericht fragt sich, ob nach der Richtlinie über die Nichtdiskriminierung in Beschäftigung und Beruf die Tatsache, dass allen Angestellten eines öffentlichen Dienstes - sogar denjenigen, die keinen direkten Kontakt mit den Nutzern der öffentlichen Dienstleistung haben - eine "exklusive und absolute" Neutralität auferlegt wird, ein rechtmäßiges Ziel darstellt und ob die Mittel zur Erreichung dieses Ziels, nämlich das Verbot des Tragens von Zeichen bestimmter Überzeugungen, angemessen und erforderlich sind.
In seinen Schlussanträgen stellt Generalanwalt Anthony Collins fest, dass die Dienstordnung der Gemeinde Ans insoweit in den Geltungsbereich der Richtlinie fällt, als diese sowohl für den öffentlichen als auch für den privaten Bereich gilt und ein Verbot wie das in Rede stehende unter die "Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen" im Sinne dieser Richtlinie fällt. Er weist ebenfalls darauf hin, dass der Begriff "Religion" in dieser Richtlinie sowohl die Tatsache, Überzeugungen zu haben, als auch die öffentliche Äußerung des religiösen Glaubens wie etwa die Tatsache, dass eine Frau das islamische Kopftuch trägt, umfasst.
Die Gründe:
Der allgemeine Rahmen, den diese Richtlinie festlegt, lässt den Mitgliedstaaten einen Wertungsspielraum, der umso größer ist, wenn Grundsätze auf dem Spiel stehen, die unter die nationale Identität der Mitgliedstaaten fallen könnten. Das Vorsehen von Beschränkungen der Freiheit der Bediensteten des privaten Sektors, ihre politischen, weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen bei Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu äußern, kann in einigen Mitgliedstaaten von so großer Bedeutung sein, dass es unter die nationale Identität fällt, die sich in den grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen dieser Mitgliedstaaten zeigt.
Die Dienstordnung einer öffentlichen Einrichtung, die den Bediensteten mit dem Ziel, ein vollständig neutrales Verwaltungsumfeld zu gestalten, das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, stellt keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne der Richtlinie dar, sofern dieses Verbot allgemein und unterschiedslos angewandt wird.
Hinsichtlich der Frage, ob dieses Verbot eine mittelbare Diskriminierung darstellt, ist, obwohl es dem Anschein nach neutral ist, nicht ausschließen, dass es in der Praxis mehrheitlich eine bestimmte Gruppe von Personen wie etwa Bedienstete der Gemeinde trifft, die religiöse Gebote befolgen, die ihnen eine bestimmte Bekleidung vorschreiben, insbesondere weibliche Arbeitnehmer, die aufgrund ihres muslimischen Glaubens ein islamisches Kopftuch tragen, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu beurteilen ist. Eine solche Ungleichbehandlung würde allerdings keine mittelbare Diskriminierung begründen, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt wäre und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich wären.
Der Wille, eine Politik der politischen, weltanschaulichen oder religiösen Neutralität innerhalb einer öffentlichen Einrichtung zu betreiben, kann ohne Weiteres ein rechtmäßiges Ziel darstellen, insbesondere im Hinblick auf die Achtung der weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen der Bürger sowie die erforderliche nichtdiskriminierende und gleichberechtigte Behandlung der Nutzer einer öffentlichen Dienstleistung.
Im Übrigen hängt die Existenz einer objektiven Rechtfertigung für eine solche Trennung von den unterschiedlichen Auffassungen von Neutralität ab, die in Belgien vertreten sind. Die Gemeinde hat sich mit der Verhängung des Verbots aus freien Stücken für die "exklusive Neutralität" entschieden, um ein "vollständig neutrales Verwaltungsumfeld" zu schaffen. Es obliegt der Gemeinde der Nachweis, dass ihre Entscheidung einem echten Bedürfnis entspricht, und es obliegt dem Arbeitsgericht Lüttich die Beurteilung dieses Nachweises unter zwei Blickwinkeln, die nicht notwendigerweise kumulativ sind. Zum einen muss das Arbeitsgericht Lüttich berücksichtigen, dass in Belgien offenbar keine gesetzliche oder verfassungsmäßige Verpflichtung besteht, die Bediensteten einer Gemeinde die Achtung einer exklusiven Neutralität auferlegt. Zum anderen ist zu prüfen, ob es tatsächliche Gesichtspunkte gibt, die die Entscheidung der Gemeinde rechtfertigen. Insoweit wirft das vorbehaltlos gestattete Tragen von Zeichen weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen in anderen Städten Belgiens in legitimer Weise die Frage der Berechtigung des in Rede stehenden Verbotes auf.
Mehr zum Thema:
Aufsatz:
Der Umgang des EuGH mit Neutralitätsgeboten
Martin Reufels / Laura Soltysiak, ArbRB 2023, 57
Rechtsprechung/News:
EuGH zum Kopftuch-Verbot am Arbeitsplatz
EuGH vom 13.10.2022 - C-344/20
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EuGH PM Nr. 74 vom 4.5.2023
Mit zwei Einzelentscheidungen wurde einer Bediensteten der Gemeinde Ans (Belgien) untersagt, das islamische Kopftuch an ihrem Arbeitsplatz zu tragen. In diesem Zusammenhang änderte die Gemeinde dann ihre Dienstordnung und verpflichtet nunmehr ihre Bediensteten zur strikten Neutralität, wobei sie jede Form von Proselytismus verbietet und das Tragen von auffälligen Zeichen der ideologischen oder religiösen Zugehörigkeit untersagt. Nach Ansicht der Bediensteten verletzt die Gemeinde damit ihre Religionsfreiheit.
Nach Auffassung des Arbeitsgerichts Lüttich (Belgien), das von der Bediensteten angerufen wurde, stellt diese Regel keine unmittelbare Diskriminierung wegen religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen dar, aber dem Anschein nach eine auf diesen Kriterien beruhende mittelbare Diskriminierung.
Dieses Gericht fragt sich, ob nach der Richtlinie über die Nichtdiskriminierung in Beschäftigung und Beruf die Tatsache, dass allen Angestellten eines öffentlichen Dienstes - sogar denjenigen, die keinen direkten Kontakt mit den Nutzern der öffentlichen Dienstleistung haben - eine "exklusive und absolute" Neutralität auferlegt wird, ein rechtmäßiges Ziel darstellt und ob die Mittel zur Erreichung dieses Ziels, nämlich das Verbot des Tragens von Zeichen bestimmter Überzeugungen, angemessen und erforderlich sind.
In seinen Schlussanträgen stellt Generalanwalt Anthony Collins fest, dass die Dienstordnung der Gemeinde Ans insoweit in den Geltungsbereich der Richtlinie fällt, als diese sowohl für den öffentlichen als auch für den privaten Bereich gilt und ein Verbot wie das in Rede stehende unter die "Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen" im Sinne dieser Richtlinie fällt. Er weist ebenfalls darauf hin, dass der Begriff "Religion" in dieser Richtlinie sowohl die Tatsache, Überzeugungen zu haben, als auch die öffentliche Äußerung des religiösen Glaubens wie etwa die Tatsache, dass eine Frau das islamische Kopftuch trägt, umfasst.
Die Gründe:
Der allgemeine Rahmen, den diese Richtlinie festlegt, lässt den Mitgliedstaaten einen Wertungsspielraum, der umso größer ist, wenn Grundsätze auf dem Spiel stehen, die unter die nationale Identität der Mitgliedstaaten fallen könnten. Das Vorsehen von Beschränkungen der Freiheit der Bediensteten des privaten Sektors, ihre politischen, weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen bei Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu äußern, kann in einigen Mitgliedstaaten von so großer Bedeutung sein, dass es unter die nationale Identität fällt, die sich in den grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen dieser Mitgliedstaaten zeigt.
Die Dienstordnung einer öffentlichen Einrichtung, die den Bediensteten mit dem Ziel, ein vollständig neutrales Verwaltungsumfeld zu gestalten, das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, stellt keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne der Richtlinie dar, sofern dieses Verbot allgemein und unterschiedslos angewandt wird.
Hinsichtlich der Frage, ob dieses Verbot eine mittelbare Diskriminierung darstellt, ist, obwohl es dem Anschein nach neutral ist, nicht ausschließen, dass es in der Praxis mehrheitlich eine bestimmte Gruppe von Personen wie etwa Bedienstete der Gemeinde trifft, die religiöse Gebote befolgen, die ihnen eine bestimmte Bekleidung vorschreiben, insbesondere weibliche Arbeitnehmer, die aufgrund ihres muslimischen Glaubens ein islamisches Kopftuch tragen, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu beurteilen ist. Eine solche Ungleichbehandlung würde allerdings keine mittelbare Diskriminierung begründen, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt wäre und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich wären.
Der Wille, eine Politik der politischen, weltanschaulichen oder religiösen Neutralität innerhalb einer öffentlichen Einrichtung zu betreiben, kann ohne Weiteres ein rechtmäßiges Ziel darstellen, insbesondere im Hinblick auf die Achtung der weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen der Bürger sowie die erforderliche nichtdiskriminierende und gleichberechtigte Behandlung der Nutzer einer öffentlichen Dienstleistung.
Im Übrigen hängt die Existenz einer objektiven Rechtfertigung für eine solche Trennung von den unterschiedlichen Auffassungen von Neutralität ab, die in Belgien vertreten sind. Die Gemeinde hat sich mit der Verhängung des Verbots aus freien Stücken für die "exklusive Neutralität" entschieden, um ein "vollständig neutrales Verwaltungsumfeld" zu schaffen. Es obliegt der Gemeinde der Nachweis, dass ihre Entscheidung einem echten Bedürfnis entspricht, und es obliegt dem Arbeitsgericht Lüttich die Beurteilung dieses Nachweises unter zwei Blickwinkeln, die nicht notwendigerweise kumulativ sind. Zum einen muss das Arbeitsgericht Lüttich berücksichtigen, dass in Belgien offenbar keine gesetzliche oder verfassungsmäßige Verpflichtung besteht, die Bediensteten einer Gemeinde die Achtung einer exklusiven Neutralität auferlegt. Zum anderen ist zu prüfen, ob es tatsächliche Gesichtspunkte gibt, die die Entscheidung der Gemeinde rechtfertigen. Insoweit wirft das vorbehaltlos gestattete Tragen von Zeichen weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen in anderen Städten Belgiens in legitimer Weise die Frage der Berechtigung des in Rede stehenden Verbotes auf.
Aufsatz:
Der Umgang des EuGH mit Neutralitätsgeboten
Martin Reufels / Laura Soltysiak, ArbRB 2023, 57
Rechtsprechung/News:
EuGH zum Kopftuch-Verbot am Arbeitsplatz
EuGH vom 13.10.2022 - C-344/20
Alles auch nachzulesen im Beratermodul Arbeitsrecht:
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