Gleichheitswidrigkeit eines tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschlages
LAG Niedersachsen v. 2.9.2020 - 17 Sa 208/20
Der Sachverhalt:
Die Parteien streiten über Ansprüche der Klägerin auf höhere Nachtarbeitszuschläge für im Jahr 2019 geleistete Arbeitsstunden. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet aufgrund beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag Futtermittelindustrie N./B. (im Folgenden: MTV) Anwendung. Dieser Tarifvertrag enthält eine Regelung, die für Nachtarbeit einen Zuschlag vom 60 % zum Stundenlohn vorsieht, während Nachtarbeit im Schichtbetrieb lediglich mit einem Zuschlag von 25 % vergütet wird.
Die Klägerin sieht in der tariflich unterschiedlichen Zuschlagsregelung für Nachtarbeit einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG und klagte auf Zahlung des höheren Zuschlags. Das ArbG wies die Klage ab.
Das LAG hat nun der Berufung weitgehend stattgegeben und die Revision zugelassen.
Die Gründe:
Der Klägerin steht ein Anspruch auf weitere Nachtzuschläge für die unstreitig geleisteten Nachtstunden zu. Die Klägerin hat Anspruch auf Vergütung eines Zuschlags für geleistete regelmäßige Nachtarbeit iSd. § 4 MTV iHv. 60 %. Die tarifvertragliche Differenzierung bei den Zuschlägen für "regelmäßige Schichtarbeit, die in die Nachtzeit von 22 Uhr bis 6 Uhr fällt" einerseits und für "Nachtarbeit, die keine regelmäßige Schichtarbeit ist" andererseits, verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
Arbeitnehmer, die regelmäßige Nachtarbeit leisten, werden ggü. Arbeitnehmern, die unregelmäßige Nachtarbeit leisten, gleichheitswidrig schlechter gestellt. Dem Gleichheitssatz kann nur dadurch Rechnung getragen werden, dass die Klägerin für die im Streitzeitraum geleistete regelmäßige Nachtarbeit ebenso behandelt wird wie ein Arbeitnehmer, der im gleichen Zeitraum unregelmäßige Nachtarbeit erbracht hat.
Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt das Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Die Tarifvertragsparteien als Normgeber sind bei der tariflichen Normsetzung zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar grundrechtsgebunden (vgl. BAG v. 19.12.2019 - 6 AZR 563/18 - mzwN). Der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet die staatlichen Arbeitsgerichte dazu, die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien zu beschränken, wenn diese mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Der insoweit bestehende Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien ist überschritten, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen den Gruppen keine Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung in der normierten Art und Weise rechtfertigen könnten.
Gemessen daran haben die Tarifvertragsparteien des MTV mit der für die Nachtarbeitszuschläge vorgenommen Gruppenbildung den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten, indem sie für eine Gruppe von Normadressaten ohne sachlichen Grund eine erheblich weniger günstige Zuschlagsregelung geschaffen haben als für eine vergleichbare Gruppe. Zwischen Nachtarbeit, die keine regelmäßige Schichtarbeit ist und regelmäßiger Schichtarbeit, die in die Nachtzeit von 22 Uhr bis 6 Uhr fällt, bestehen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, die eine derart unterschiedliche Nachtarbeitsvergütung rechtfertigen. Die Zuschlagsregelung für regelmäßige Nachtarbeit verringert sach- und gleichheitswidrig das Entgelt für die mit der Erschwernis Nachtarbeit verbundene Arbeitsleistung im Vergleich zu den Arbeitnehmern, die Nachtarbeit verrichten, die keine regelmäßige Schichtarbeit im Tarifsinne ist.
Die Gruppe der Arbeitnehmer, die - wie die Klägerin - Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit leistet, ist mit der Gruppe der Arbeitnehmer vergleichbar, die Nachtarbeit außerhalb von Schichtsystemen leisten. Beide Arbeitnehmergruppen erbringen Leistung innerhalb eines Zeitraums, der in § 4 MTV als Nachtarbeit definiert ist und sich dadurch von Arbeit zu anderen Zeiten unterscheidet.
Die Differenzierung bei der Zuschlagshöhe zwischen Nachtarbeit, die keine regelmäßige Schichtarbeit ist und Schichtarbeit, die in die Nachtzeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr fällt, kann nicht mit gesundheitlichen Belastungen und der sozialen Desynchronisation gerechtfertigt werden. Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung besteht kein Unterschied zwischen den gesundheitlichen Belastungen für Arbeitnehmer, die Nachtarbeit innerhalb von Schichten leisten und Arbeitnehmern, die Nachtarbeit außerhalb von Schichten verrichten.
Die erhebliche Differenzierung der Zuschlagshöhe für Nachtarbeit ist vorliegend nicht durch sachliche Gründe neben dem Gesundheitsschutz und der alle Nachtarbeiter betreffenden sozialen Desynchronisation sachlich gerechtfertigt. Auch wird sie nicht durch andere, zB. auf bezahlte Freizeit gerichtete, tarifliche Regelungen - ausreichend - kompensiert.
Justiz Niedersachsen online
Die Parteien streiten über Ansprüche der Klägerin auf höhere Nachtarbeitszuschläge für im Jahr 2019 geleistete Arbeitsstunden. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet aufgrund beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag Futtermittelindustrie N./B. (im Folgenden: MTV) Anwendung. Dieser Tarifvertrag enthält eine Regelung, die für Nachtarbeit einen Zuschlag vom 60 % zum Stundenlohn vorsieht, während Nachtarbeit im Schichtbetrieb lediglich mit einem Zuschlag von 25 % vergütet wird.
Die Klägerin sieht in der tariflich unterschiedlichen Zuschlagsregelung für Nachtarbeit einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG und klagte auf Zahlung des höheren Zuschlags. Das ArbG wies die Klage ab.
Das LAG hat nun der Berufung weitgehend stattgegeben und die Revision zugelassen.
Die Gründe:
Der Klägerin steht ein Anspruch auf weitere Nachtzuschläge für die unstreitig geleisteten Nachtstunden zu. Die Klägerin hat Anspruch auf Vergütung eines Zuschlags für geleistete regelmäßige Nachtarbeit iSd. § 4 MTV iHv. 60 %. Die tarifvertragliche Differenzierung bei den Zuschlägen für "regelmäßige Schichtarbeit, die in die Nachtzeit von 22 Uhr bis 6 Uhr fällt" einerseits und für "Nachtarbeit, die keine regelmäßige Schichtarbeit ist" andererseits, verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
Arbeitnehmer, die regelmäßige Nachtarbeit leisten, werden ggü. Arbeitnehmern, die unregelmäßige Nachtarbeit leisten, gleichheitswidrig schlechter gestellt. Dem Gleichheitssatz kann nur dadurch Rechnung getragen werden, dass die Klägerin für die im Streitzeitraum geleistete regelmäßige Nachtarbeit ebenso behandelt wird wie ein Arbeitnehmer, der im gleichen Zeitraum unregelmäßige Nachtarbeit erbracht hat.
Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt das Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Die Tarifvertragsparteien als Normgeber sind bei der tariflichen Normsetzung zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar grundrechtsgebunden (vgl. BAG v. 19.12.2019 - 6 AZR 563/18 - mzwN). Der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet die staatlichen Arbeitsgerichte dazu, die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien zu beschränken, wenn diese mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Der insoweit bestehende Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien ist überschritten, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen den Gruppen keine Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung in der normierten Art und Weise rechtfertigen könnten.
Gemessen daran haben die Tarifvertragsparteien des MTV mit der für die Nachtarbeitszuschläge vorgenommen Gruppenbildung den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten, indem sie für eine Gruppe von Normadressaten ohne sachlichen Grund eine erheblich weniger günstige Zuschlagsregelung geschaffen haben als für eine vergleichbare Gruppe. Zwischen Nachtarbeit, die keine regelmäßige Schichtarbeit ist und regelmäßiger Schichtarbeit, die in die Nachtzeit von 22 Uhr bis 6 Uhr fällt, bestehen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, die eine derart unterschiedliche Nachtarbeitsvergütung rechtfertigen. Die Zuschlagsregelung für regelmäßige Nachtarbeit verringert sach- und gleichheitswidrig das Entgelt für die mit der Erschwernis Nachtarbeit verbundene Arbeitsleistung im Vergleich zu den Arbeitnehmern, die Nachtarbeit verrichten, die keine regelmäßige Schichtarbeit im Tarifsinne ist.
Die Gruppe der Arbeitnehmer, die - wie die Klägerin - Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit leistet, ist mit der Gruppe der Arbeitnehmer vergleichbar, die Nachtarbeit außerhalb von Schichtsystemen leisten. Beide Arbeitnehmergruppen erbringen Leistung innerhalb eines Zeitraums, der in § 4 MTV als Nachtarbeit definiert ist und sich dadurch von Arbeit zu anderen Zeiten unterscheidet.
Die Differenzierung bei der Zuschlagshöhe zwischen Nachtarbeit, die keine regelmäßige Schichtarbeit ist und Schichtarbeit, die in die Nachtzeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr fällt, kann nicht mit gesundheitlichen Belastungen und der sozialen Desynchronisation gerechtfertigt werden. Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung besteht kein Unterschied zwischen den gesundheitlichen Belastungen für Arbeitnehmer, die Nachtarbeit innerhalb von Schichten leisten und Arbeitnehmern, die Nachtarbeit außerhalb von Schichten verrichten.
Die erhebliche Differenzierung der Zuschlagshöhe für Nachtarbeit ist vorliegend nicht durch sachliche Gründe neben dem Gesundheitsschutz und der alle Nachtarbeiter betreffenden sozialen Desynchronisation sachlich gerechtfertigt. Auch wird sie nicht durch andere, zB. auf bezahlte Freizeit gerichtete, tarifliche Regelungen - ausreichend - kompensiert.