Kein Diskriminierungsschutz für Scheinbewerbungen
EuGH 28.7.2016, C-423/15Im März 2009 hatte die beklagte R+V Allgemeine Versicherung AG Trainee-Stellen für Hochschulabsolventen u.a. der Fachrichtung Jura ausgeschrieben. Als Anforderungskriterien waren ein sehr guter Hochschulabschluss, der nicht länger als ein Jahr zurückliegt oder innerhalb der nächsten Monate erfolgt, und qualifizierte, berufsorientierte Praxiserfahrung aufgeführt. Für den Bereich Jura wurden außerdem das erfolgreiche Absolvieren beider Staatsexamina und eine arbeitsrechtliche Ausrichtung oder medizinische Kenntnisse verlangt.
Der Kläger bewarb sich daraufhin um eine Trainee-Stelle der Fachrichtung Jura und betonte, dass er nicht nur alle Kriterien erfülle, sondern auch als Rechtsanwalt und ehemaliger leitender Angestellter einer Versicherungsgesellschaft über Führungserfahrung verfüge und gewohnt sei, Verantwortung zu übernehmen und selbständig zu arbeiten. Er besuche außerdem einen Fachanwaltskurs für Arbeitsrecht und betreue wegen des Todes seines Vaters ein umfangreiches medizinrechtliches Mandat.
Nachdem dem Kläger von der Beklagten abgesagt worden war, machte dieser einen Entschädigungsanspruch i.H.v. 14.000 € wegen Altersdiskriminierung geltend. Daraufhin lud die Beklagte den Kläger zu einem Vorstellungsgespräch ein, was dieser jedoch ablehnte und stattdessen vorschlug, nach Erfüllung des geltend gemachten Entschädigungsanspruchs über seine Zukunft bei R+V zu sprechen.
ArbG und LAG wiesen die Entschädigungsansprüche ab. Auf die Revision des Klägers setzte das BAG das Verfahren aus und legte dem EuGH die Sache zur Vorabentscheidung vor, um zu erfahren, ob Art. 3 Abs. 1a der Richtlinie 2000/78 und Art. 14 Abs. 1a der Richtlinie 2006/54 dahin auszulegen sind, dass eine Situation, in der eine Person mit ihrer Stellenbewerbung nicht die betreffende Stelle erhalten, sondern nur den formalen Status als Bewerber erlangen möchte, und zwar mit dem alleinigen Ziel, eine Entschädigung geltend zu machen, unter den Begriff "Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger Erwerbstätigkeit" i.S.d. Bestimmungen fällt und ob eine solche Situation nach Unionsrecht als Rechtsmissbrauch bewertet werden kann.
Der EuGH hat entschieden, dass Art. 3 Abs. 1a der Richtlinie 2000/78 und Art. 14 Abs. 1a der Richtlinie 2006/54 dahin auszulegen sind, dass eine Situation, in der eine Person mit ihrer Stellenbewerbung nicht die betreffende Stelle erhalten, sondern nur den formalen Status als Bewerber erlangen möchte, und zwar mit dem alleinigen Ziel, eine Entschädigung geltend zu machen, nicht unter den Begriff "Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger Erwerbstätigkeit" i.S.d. Bestimmungen fällt und, wenn die nach Unionsrecht erforderlichen Tatbestandsmerkmale vorliegen, als Rechtsmissbrauch bewertet werden kann.
Die Gründe:
Eine Person, die offensichtlich die Stelle, um die sie sich formal bewirbt, gar nicht erhalten will, kann sich nicht auf den durch die Richtlinien 2000/78 und 2006/54 gewährten Schutz berufen. Eine andere Auslegung wäre unvereinbar mit dem von diesen Richtlinien verfolgten Ziel, zu gewährleisten, dass jeder "in Beschäftigung und Beruf" bzw. "in Arbeits- und Beschäftigungsfragen" gleich behandelt wird, indem dem Betroffenen ein wirksamer Schutz gegen bestimmte Diskriminierungen, u.a. beim "Zugang zur Beschäftigung", geboten wird.
Eine solche Person kann zudem unter derartigen Umständen weder als Opfer i.S.v. Art. 17 der Richtlinie 2000/78 und Art. 25 der Richtlinie 2006/54 noch als eine Person, der ein Schaden entstanden ist, i.S.v. Art. 18 der Richtlinie 2006/54 angesehen werden. Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung darf sich niemand in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf die Rechtsvorschriften der EU berufen. Die Feststellung eines missbräuchlichen Verhaltens verlangt das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Tatbestandsmerkmals. Zum Beweis für das Vorliegen des zweiten Tatbestandsmerkmals, das auf die Absicht der Handelnden abstellt, kann u.a. der rein künstliche Charakter der fraglichen Handlungen berücksichtigt werden.
Es ist Sache des nationalen Gerichts, gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts - soweit dadurch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt wird - festzustellen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen eines missbräuchlichen Verhaltens im Ausgangsverfahren erfüllt sind.
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