27.09.2023

Kündigung wegen Vorlage einer "vorläufigen Impfunfähigkeitsbescheinigung" aus dem Internet

Auch die Vorlage irreführender ärztlicher Bescheinigungen kann eine Verletzung der Rücksichtnahmepflicht darstellen, die den Arbeitnehmer trifft. Dies gilt insbesondere für Nachweise iSd § 20a Abs. 2 S. 1 IfSG (a.F.). Die Vorlage einer aus dem Internet heruntergeladenen formularmäßigen ärztlichen "vorläufigen Impfunfähigkeitsbescheinigung", die ohne ärztliche Untersuchung erstellt wurde und den falschen Eindruck erweckt, auf den individuellen Verhältnissen des Arbeitnehmers zu beruhen, kann eine Kündigung rechtfertigen (im Streitfall verneint, da Abmahnung erforderlich).

LAG Hamm v. 30.3.2023 - 18 Sa 1048/22
Der Sachverhalt:
Die Parteien streiten darüber, ob das zwischen ihnen begründete Arbeitsverhältnis durch Kündigungen aufgelöst wurde, die die Beklagte darauf stützen will, die Klägerin habe eine unrichtige Impfunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt.

Die Beklagte betreibt ein Pflegeheim. Die Klägerin war dort seit als Pflegeassistentin beschäftigt. Die Klägerin ist nicht gegen das Coronavirus SARS-Cov-2 geimpft. Da sie in einer Pflegeeinrichtung tätig ist, war sie gemäß § 20a Abs. 2 S. 1 IfSG verpflichtet, einen Impfnachweis, einen Genesenennachweis, ein ärztliches Zeugnis über die Schwangerschaft oder ein ärztliches Zeugnis darüber, dass sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus SARS-Cov-2 geimpft werden kann, bis zum 15.3.2022 vorzulegen.

Die Klägerin erhielt über eine Webseite, nachdem sie die dort formularmäßig gestellte Frage verneinte, ob sie ausschließen könne, gegen einen der Bestandteile der Inhalts- oder Hilfsstoffe des ausgewählten Impfstoffes allergisch zu sein, u.a. eine Bescheinigung über die vorläufige Impfunfähigkeit sowie ein Anschreiben zur Vorlage beim Arbeitgeber, welche sie der Beklagten vorlegte. Beide Dokumente waren von Dr. E. unter deren Postadresse in G ausgestellt und konnten von der Klägerin aus dem Internet heruntergeladen und ausgedruckt werden.

Das Anschreiben zur Vorlage beim Arbeitgeber lautet:

"Vorläufige Impfunfähigkeitsbescheinigung gem. § 20 IfSG

Ihre Mitarbeiterin F. befindet sich im Prozess der Entscheidungsfindung bezüglich ihrer Impffähigkeit im Impfstoffen gegen COVID-19. Im Rahmen der Selbstfürsorge hat sich F. an mich gewandt, da alle Hersteller von Impfstoffen eine Impfung ausschließen, wenn eine Allergie gegen einen der Wirk- und Hilfsstoffe vorliegt.

F. kann für sich eine Allergie gegen Inhaltsstoffe der Impfsera noch nicht ausschließen.

Für den Zeitraum bis zu einer Abklärung beim Facharzt für Allergologie (eine Überweisung wurde ausgehändigt) erhält sie von mir eine vorrübergehende Impfunfähigkeitsbescheinigung. Diese ist befristet auf maximal 6 Monate, in dieser Zeit sollte eine Abklärung möglich sein. ...

Dr. med. E."

Das ArbG gab der Kündigungsschutzklage statt. Auch das LAG sah die Kündigung als unwirksam an. Es besteht die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde gem. § 72a ArbGG.

Die Gründe:
Die Kündigung ist rechtsunwirksam, da der gem. § 626 Abs. 1 BGB erforderliche wichtige Grund nicht vorliegt. Zugunsten der Beklagten kann zwar angenommen werden, dass das Verhalten der Klägerin einen Kündigungsgrund "an sich" darstellt, jedoch fällt die notwendige Interessenabwägung zugunsten der Klägerin aus.

Ein Kündigungsgrund "an sich" kann darin liegen, dass der Arbeitnehmer unrichtige ärztliche Bescheinigungen vorlegt. Zugunsten der Beklagten kann angenommen werden, dass auch die Vorlage irreführender ärztlicher Bescheinigungen eine Verletzung der Rücksichtnahmepflicht darstellt. Dies gilt insbesondere für Nachweise im Sinne des § 20a Abs. 2 S. 1 IfSG. Betreiber von Einrichtungen im Sinne des § 20a Abs. 1 IfSG sind verständlicherweise daran interessiert, den Betrieb der Einrichtung gesetzeskonform unter weitgehendem Ausschluss von gesundheitlichen Risiken für die betreuten Personen zu führen. Dieses Ziel wird durch die Vorlage irreführender Bescheinigungen nicht unerheblich erschwert.

Im Streitfall kann der Klägerin zwar nicht der Vorwurf gemacht werden, eine "gefälschte" Bescheinigung vorgelegt zu haben. Das Anschreiben an den Arbeitgeber vom 4.2.2022, das die Klägerin der Beklagten übergab, ist nicht manipulativ hergestellt oder von der Klägerin inhaltlich verändert worden. Der Inhalt des Schreibens enthält auch keine unrichtigen Angaben über den Gesundheitszustand der Klägerin. Aus dem Schreiben ergibt sich nicht, dass die Klägerin tatsächlich impfunfähig ist. Vielmehr heißt es dort, die Klägerin könne "für sich" eine Allergie gegen Inhaltsstoffe der Impfstoffe nicht ausschließen und erhalte zur Abklärung einer möglicherweise bestehenden Allergie eine vorübergehende Impfunfähigkeitsbescheinigung.

Jedoch ist die Bescheinigung inhaltlich irreführend. Sie erweckt den Eindruck, es habe ein persönlicher Kontakt zwischen der Klägerin und der ausstellenden Ärztin bestanden und die ärztliche Stellungnahme beruhe auf den individuellen Besonderheiten der Klägerin. Der Eindruck, dass es sich um eine ärztliche Stellungnahme unter Berücksichtigung persönlicher Besonderheiten der Klägerin handelt, wird insbesondere dadurch hervorgerufen, dass die Klägerin in dem Anschreiben als "begutachtete Person" bezeichnet wird. Tatsächlich handelt es sich aber um eine Bescheinigung, die jedermann gleichlautend erhält, wenn er die Frage verneint, Allergien gegen Impfstoffe ausschließen zu können. Üblicherweise kommt eine ärztliche Stellungnahme über gesundheitliche Belange einer Person auf solchem Weg nicht zustande.

Die notwendige Interessenabwägung fällt aber zugunsten der Klägerin aus. Es war für die Beklagte zumutbar, das Arbeitsverhältnis weiter fortzusetzen. Die Verletzung der Rücksichtnahmepflicht beruhte auf steuerbarem Verhalten der Klägerin. Zur Vermeidung künftiger Vertragsstörungen wäre der Ausspruch einer Abmahnung ausreichend gewesen.

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Aufsatz:
Ein LAG, zwei Ansichten: Kündigung wegen einer Impfunfähigkeitsbescheinigung aus dem Netz?
AA 2023, 61

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