Nachtarbeitszuschläge: Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung über Verfassungsbeschwerde in anderem Verfahren
LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 18.4.2024 - 5 Ta 8/24
Der Sachverhalt:
Die Parteien streiten über die Höhe des Nachtarbeitszuschlags nach dem Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 2.6.2009, abgeschlossen zwischen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und dem Arbeitgeberverband Nordernährung, in Kraft getreten zum 1.1.2009 (MTV Obst/Gemüse M-V), insbesondere über die Rechtmäßigkeit der Festlegung unterschiedlicher Zuschlagssätze für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit".
Die Beklagte stellt mit mehr als 900 Arbeitnehmern Tiefkühlprodukte, insbesondere Tiefkühlpizzen, her. Die bei ihr beschäftigte Klägerin wird in der Früh-, Spät- und Nachtschicht, teilweise auch nur in der Tagschicht, eingesetzt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der MTV Obst/Gemüse M-V Anwendung, nach dem für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" ein Zuschlag von 50 % und bei "Schichtarbeit während der Nachtzeit (22 Uhr - 6 Uhr)" ein Zuschlag von 25 % zu zahlen ist. Die Klägerin erhielt für die im streitgegenständlichen Zeitraum Januar 2020 bis Dezember 2020 geleistete "Schichtarbeit während der Nachtzeit (22 Uhr - 6 Uhr)" den tarifvertraglich festgelegten Zuschlag von 25 %. Mit ihrer Klage fordert sie einen weiteren Zuschlag für diesen Zeitraum von nochmals 25 %. Es gebe im MTV Obst/Gemüse M-V keinen sachlichen Grund für die von den Tarifvertragsparteien vorgenommene Differenzierung bei den Nachtarbeitszuschlägen, weshalb die tarifvertragliche Regelung unwirksam sei und aufgrund dessen der höhere Zuschlag von 50 % zu zahlen sei.
Vom LAG Mecklenburg-Vorpommern liegen zu Nachtarbeitszuschlägen nach dem MTV Obst/Gemüse M-V bislang rd. 20 Entscheidungen vor, in denen die Kläger jeweils unterlegen sind. Die Revisionen sind beim BAG anhängig. Ähnliche Differenzierungen bei Nachtarbeitszuschlägen finden sich bundesweit in zahlreichen Tarifverträgen, auch anderer Branchen. Allein von der NGG werden bundesweit rd. 6.000 Verfahren geführt, davon rd. 400 Verfahren beim BAG. Zwischenzeitlich hatte das BAG dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob es gegen EU-Recht verstoßen könne, wenn ein Tarifvertrag für regelmäßige Nachtarbeit geringere Zuschläge vorsehe als für unregelmäßige Nachtarbeit. Auch das BVerfG zum Thema Nachtarbeitszuschläge verhandeln.
Das ArbG hat den vorliegenden Rechtsstreit mit Beschluss vom 26.1.2024 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in dem Vorverfahren bzw. bis zu einer Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des BAG vom 22.3.2023 (10 AZR 499/20 - Az. des BVerfG: 1 BvR 1478/23), längstens jedoch bis zum 30.12.2024, ausgesetzt. Die streitgegenständliche Forderung sei nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts notwendig. Die mit einer Aussetzung verbundene Verzögerung werde zum Teil durch den Zinsanspruch kompensiert. Eine Insolvenz der Beklagten sei nicht zu befürchten. Andererseits verringere sich im Falle eines Unterliegens das Kostenrisiko.
Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Klägerin blieb vor dem LAG ohne Erfolg.
Die Gründe:
Der Aussetzungsbeschluss des ArbG ist nicht zu beanstanden.
Nach § 148 Abs. 1 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei. Im Beschwerdeverfahren kann die Entscheidung des Arbeitsgerichts über die Aussetzung des Verfahrens nach § 148 ZPO nur darauf überprüft werden, ob ein Aussetzungsgrund im Sinne der Vorgreiflichkeit des anderen Rechtsstreits vorliegt und ob das Arbeitsgericht bei der Ausübung seines Ermessens dessen Grenzen eingehalten hat und auch sonst keine Ermessensfehler gegeben sind.
Bei Anhängigkeit einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in einem Parallelverfahren kommt eine Aussetzung der Verhandlung in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO in Betracht. Bei parallel gelagerten Fällen kann eine einzelne Verfassungsbeschwerde ausreichen, um eine umfassende Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen durch das BVerfG zu ermöglichen. Das ist der Fall, wenn weitere zu erwartende Verfassungsbeschwerden nicht zu einer Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage für das BVerfG führen und das Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht beschleunigen würden. Zahlreiche weitere Verfassungsbeschwerden in Parallelverfahren würden im Gegenteil nur zu einer unnötigen Belastung des BVerfG führen und könnten im Extremfall die Funktionsfähigkeit des Verfahrens der Verfassungsbeschwerde, das auch dem Ziel dient, das objektive Verfassungsrecht zu wahren, auszulegen und fortzubilden, gefährden.
Eine Entscheidung des BVerfG über eine der Verfassungsbeschwerden gegen die o.g. Urteile des BAG wird auch zu einer endgültigen Klärung des vorliegenden Rechtsstreits führen. Weiterer Verfassungsbeschwerden bedarf es nicht, um die Entscheidungsgrundlage im Hinblick auf die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu erweitern und zu vervollständigen. Die bereits anhängigen Verfassungsbeschwerden genügen hierfür. Das Parteivorbringen im vorliegenden Rechtsstreit wie in den hier noch anhängigen Rechtsstreiten ist im Wesentlichen deckungsgleich mit dem Parteivorbringen in denjenigen Verfahren, die dem BVerfG vorliegen. Eine Vielzahl weiterer Verfassungsbeschwerden würde lediglich zu einer Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit des BVerfG führen.
Die Aussetzung der Verhandlung durch das ArbG bis längstens 30.12.2024 ist nicht ermessensfehlerhaft. Die Interessen der Klägerin stehen einer zeitlich begrenzten Aussetzung nicht entgegen. Die mit der Aussetzung verbundene Verzögerung um etwa ein dreiviertel Jahr ist im Hinblick auf die Tragweite eines ggf. verfassungswidrigen Urteils hinnehmbar. Rechtssicherheit schafft erst eine Entscheidung des BVerfG. Bis dahin kann die Klägerin nicht davon ausgehen, einen möglicherweise erstinstanzlich zuerkannten Betrag endgültig behalten zu dürfen. Die streitgegenständliche Forderung ist bezogen auf die mtl. Vergütung verhältnismäßig gering. Die Deckung des Lebensunterhalts hängt nicht von einer baldigen Durchsetzung der Forderung, sollte diese berechtigt sein, ab.
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Landesrecht Mecklenburg-Vorpommern
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