28.09.2020

Nachträgliche Zulassung einer Kündigungsschutzklage trotz fehlerhafter elektronischer Übermittlung der Klageschrift

§ 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG findet keine Anwendung, wenn das Versäumen der Frist der Sphäre des Gerichts und nicht derjenigen des Antragstellers zuzurechnen ist und der Prozessgegner kein schutzwürdiges Vertrauen auf den Eintritt der Rechtssicherheit haben konnte.

BAG v. 30.7.2020 - 2 AZR 43/20
Der Sachverhalt:
Die Parteien stritten über die Wirksamkeit einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung und hier aber insbesondere um die nachträgliche Zulassung der Klage durch das LAG trotz einer fehlerhaften elektronischen Übermittlung der Klageschrift.

Die Klägerin hatte am 21.3.2018 über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) des ArbG Kündigungsschutzklage eingereicht. Die angefügte qualifizierte elektronische Signatur (qeS) ihres Prozessbevollmächtigten bezog sich auf einen elektronischen Nachrichtencontainer (sog. Container-Signatur) und nicht auf das PDF-Dokument der Klageschrift. Damit lag ein Verstoß gegen § 4 Abs. 2 ERVV vor, wonach mehrere elektronische Dokumente nicht mit einer gemeinsamen qeS übermittelt werden dürfen.

Dieser Formfehler war aber zunächst von allen Beteiligten unbemerkt geblieben und das ArbG hatte der Klage stattgegeben. Erst in der Berufungsinstanz wies das LAG die Parteien am 1.8.2019 - also über ein Jahr nach Klageerhebung - darauf hin, dass die Signatur nur an dem Nachrichtencontainer angebracht war. Die Klägerin beanragte daraufhin die nachträgliche Zulassung der Klage, wobei sie nunmehr die ordnungsgemäß signierte Klageschrift beifügte. Das LAG gab dem Antrag der Klägerin statt und wies die Berufung zurück.

Das BAG hat nun auch die Revision der Beklagten zurückgewiesen.

Die Gründe:
Die Revision ist unbegründet. Die Klage ist nicht mangels ordnungsgemäßer Klageerhebung unzulässig.

Zwar genügte die am 21.3.2018 beim ArbG eingereichte Kündigungsschutzklage den gesetzlichen Vorgaben nicht, denn die Klage ist als elektronisches Dokument nicht auf einem sicheren Übermittlungsweg iSd. § 4 Abs. 1 Nr. 1 ERVV iVm. § 46c Abs. 4 ArbGG übermittelt worden. Die Klageschrift war nämlich nicht mit einer ordnungsgemäß angebrachten qeS versehen; es lag lediglich eine Container-Signatur vor. Nach § 4 Abs. 2 ERVV dürfen mehrere elektronische Dokumente aber nicht mit einer gemeinsamen qeS übermittelt werden. Die qeS darf aus diesem Grund nicht nur am Nachrichtencontainer angebracht sein. Durch die Einschränkung soll verhindert werden, dass nach der Trennung eines elektronischen Dokuments vom Nachrichtencontainer die Container-Signatur nicht mehr überprüft werden kann.

Der Mangel ist jedoch spätestens mit dem Antrag auf nachträgliche Klagezulassung - ex nunc - behoben worden. Dem Antrag war die nunmehr ordnungsgemäß signierte Klageschrift beigefügt. Das LAG hat die Klage zu Recht gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 KSchG nachträglich zugelassen.

Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Klägerin den Antrag auf nachträgliche Klagezulassung erst nach Ablauf der Sechsmonatsfrist des § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG gestellt hat. Der Fristablauf ist ausnahmsweise unschädlich. Denn das LAG hat zutreffend angenommen, dass § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG vorliegend keine Anwendung findet.

Nach dem Gesetzeswortlaut handelt es sich bei der Sechsmonatsfrist des § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG zwar um eine absolute Höchstfrist für den Antrag auf nachträgliche Klagezulassung. Dadurch soll die Ungewissheit des Arbeitgebers, ob er die Wirksamkeit einer Kündigung noch wird verteidigen müssen, spätestens sechs Monate nach Ablauf der eigentlichen Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG enden. Die Frist ist das Ergebnis einer Abwägung zwischen den Interessen an einerseits materieller Gerechtigkeit und andererseits Rechtssicherheit.

Daraus folgt aber zugleich, dass der Anwendungsbereich der Norm teleologisch zu reduzieren ist, wenn ihr Sinn und Zweck die Anwendung nicht gebietet und anderenfalls den Anforderungen an ein faires Verfahren nicht genügt werden kann. Das ist der Fall, wenn das Versäumen der Frist der Sphäre des Gerichts und nicht derjenigen des Antragstellers zuzurechnen ist und darüber hinaus ein Schutz der Interessen des Prozessgegners nicht geboten ist, weil dieser kein schutzwürdiges Vertrauen auf den Eintritt der Rechtssicherheit haben konnte.

§ 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG verlangt wegen der Anforderungen an ein faires Verfahren eine entsprechende teleologische Reduktion seines Anwendungsbereichs. Ein dem entgegenstehender Wille des Gesetzgebers lässt sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Zwar handelt es sich um eine nur sechs- und nicht zwölfmonatige Frist, deren Versäumung gemäß § 4 Satz 1, § 7 Halbs. 1 KSchG zudem unmittelbare materielle Wirkung hat. Die Dauer der Frist trägt aber nur den Besonderheiten des Kündigungsschutzrechts Rechnung, indem sie einen Ausgleich zwischen dem Interesse des Arbeitgebers an Planungssicherheit und dem Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt des Arbeitsplatzes schafft. Daneben ist die Norm Ausdruck des auch in § 61a ArbGG geregelten besonderen Beschleunigungsgrundsatzes im Kündigungsschutzverfahren. Ihr Normzweck steht daher einer durch Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gebotenen teleologischen Reduktion ihres Anwendungsbereichs nicht entgegen, sofern sich auf Seiten des beklagten Arbeitgebers kein schutzwürdiges Vertrauen auf den Eintritt der Rechtssicherheit gebildet haben konnte. Dies ist der Fall, wenn dem Arbeitgeber eine Klage zugestellt worden ist, die zwar (zunächst unerkannt) die formalen Anforderungen an eine Kündigungsschutzklage iSv. § 4 Satz 1 KSchG nicht erfüllte, aber vom Gericht als solche behandelt worden ist. Auf den Eintritt der Fiktionswirkung des § 7 Halbs. 1 KSchG konnte der Arbeitgeber dann bis zu einem entsprechenden Hinweis des Gerichts nicht vertrauen. Wenn aber das Recht eines Antragstellers auf ein faires Verfahren Ausnahmen sogar von der einjährigen Frist des § 234 Abs. 3 ZPO rechtfertigt (vgl. BGH v. 25.4.2019 - III ZB 104/18), ist kein Grund ersichtlich, dass dies nicht gleichermaßen für die kürzere Frist des § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG gilt. Auch die materielle Wirkung von § 4 Satz 1 KSchG und § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG bezweckt nicht den Schutz eines Arbeitgebers, der keinen Anlass hatte, auf den Eintritt der Fiktionswirkung des § 7 Halbs. 1 KSchG zu vertrauen. Danach hat das LAG § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG im Streitfall zutreffend für nicht anwendbar gehalten.

Die Versäumung der Frist des § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG hatte ihre Ursache in der Sphäre des Gerichts. Das ArbG hatte bis zu ihrem Ablauf keinen Hinweis erteilt, dass wegen der nicht ordnungsgemäß signierten Klageschrift die Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG möglicherweise nicht gewahrt war. Hierzu wäre es nach § 139 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 ZPO unabhängig davon verpflichtet gewesen, ob es selbst die Bedenken im Ergebnis teilte, um der Klägerin die Möglichkeit zu geben, zumindest vorsorglich einen Antrag auf nachträgliche Klagezulassung zu stellen.

Das LAG hat den Antrag auf nachträgliche Klagezulassung zu Recht als begründet erachtet.

§ 5 Abs. 1 Satz 1 KSchG verlangt, dass der Arbeitnehmer trotz Anwendung aller ihm nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt gehindert war, die Klage rechtzeitig zu erheben. Dabei ist ihm das Verschulden eines (Prozess-)Bevollmächtigten an der Versäumung der gesetzlichen Klagefrist zuzurechnen. Ein etwaiges Verschulden der Partei bzw. ihres Prozessbevollmächtigten tritt jedoch hinter gerichtliches Verschulden zurück, wenn ohne dieses die Frist gewahrt worden wäre. Maßgeblich ist dann der in der Sphäre des Gerichts liegende Grund für die Fristversäumung.

So liegt der Fall hier. Die Partei trifft zwar regelmäßig ein Verschulden, wenn ihr Prozessbevollmächtigter ein elektronisches Dokument unter Verstoß gegen § 46c Abs. 3 Alt. 1 ArbGG iVm. § 4 Abs. 2 ERVV mit einer Container-Signatur an das Gericht übermittelt. Es ist die Pflicht des Rechtsanwalts, für einen ordnungsgemäßen Zustand der aus seiner Kanzlei ausgehenden elektronischen Dokumente einschließlich einer ggf. erforderlichen ordnungsgemäßen qeS iSd. § 46c Abs. 3 Alt. 1 ArbGG zu sorgen. Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil das Inkrafttreten von § 4 Abs. 2 ERVV zum 1.1.2018 in der Praxis weitgehend unbeachtet geblieben ist. Ein Rechtsanwalt muss die Gesetze und Rechtsverordnungen kennen, die in einer Anwaltspraxis gewöhnlich zur Anwendung kommen.

Die Fristversäumung hätte hier aber trotz des Verschuldens des früheren Prozessbevollmächtigten der Klägerin vermieden werden können, wenn das ArbG noch vor Ablauf der Klagefrist gemäß § 4 Satz 1 KSchG auf die nicht ausreichende Signatur hingewiesen hätte.

Die entsprechende Pflicht des Arbeitsgerichts ergab sich aus dem Anspruch der Klägerin auf ein faires gerichtliches Verfahren gemäß Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG. Dieser begründet eine prozessuale Fürsorgepflicht, aufgrund derer die Gerichte auf ggf. offenkundige Formmängel bestimmender Schriftsätze hinweisen müssen. Ein offenkundiger Formmangel liegt auch dann vor, wenn eine Kündigungsschutzklage mit einer unzulässigen Container-Signatur versehen eingeht. Die Gerichte trifft zwar keine generelle Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der Formalien eines als elektronisches Dokument eingereichten Schriftsatzes. Die klagende Partei kann aber erwarten, dass dies in angemessener Zeit bemerkt wird und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um ein drohendes Fristversäumnis zu vermeiden. Unterbleibt der gebotene Hinweis, ist die Kündigungsschutzklage nachträglich zuzulassen, wenn der Hinweis bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang so rechtzeitig hätte erfolgen können, dass der Partei die Fristwahrung noch möglich gewesen wäre.

Der bzw. die Vorsitzende trägt auch die Verantwortung dafür, dass eine Überprüfung der elektronischen Signaturen bestimmender Schriftsätze erfolgt, selbst wenn hierfür unterstützend andere Gerichtsbedienstete herangezogen werden.

Richterliche Hinweispflichten bestehen unabhängig von einer anwaltlichen Vertretung der hinweisempfangenden Partei zumindest dann, wenn der Anwalt - wie hier - die Rechtslage falsch beurteilt oder ersichtlich darauf vertraut, sein schriftsätzliches Vorbringen sei ausreichend.

Im Streitfall hätte das Arbeitsgericht den erforderlichen Hinweis im ordnungsgemäßen Geschäftsgang so rechtzeitig erteilen können, dass die Klägerin die ordnungsgemäße Klageerhebung noch innerhalb der Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG hätte nachholen können.
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