Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Arbeitslosengeld II sind teilweise verfassungswidrig
BVerfG 5.11.2019, 1 BvL 7/16
Der Sachverhalt:
Im Ausgangsverfahren hatte das zuständige Jobcenter dem Kläger und ausgebildeten Lageristen eine Tätigkeit in einem Lager vermittelt. Der Kläger teilte dem Jobcenter mit, dass er kein Interesse an der angebotenen Tätigkeit im Lager habe, sondern sich für den Verkaufsbereich bewerben wolle. Daraufhin verhängte das Jobcenter gegen den Kläger zunächst eine Sanktion der Minderung des maßgeblichen Regelbedarfes i.H.v. 30 %. Nachdem der Kläger einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein für eine praktische Erprobung im Verkaufsbereich nicht eingelöst hatte, minderte das Jobcenter den Regelbedarf um 60 %.
Nach erfolglosem Widerspruch erhob er Klage vor dem SG, welches das Verfahren aussetzte und im Wege der konkreten Normenkontrolle dem BVerfG die Frage vorlegte, ob die Regelungen in § 31a i.V.m. mit § 31 und § 31b SGB II mit dem GG vereinbar seien. Das BVerfG erklärte die Regelungen teilweise für verfassungswidrig.
Die Gründe:
Die Regelungen staatlicher Sozialleistungen sind mit dem GG vereinbar, soweit sie erwerbsfähige Erwachsene zu einer zumutbaren Mitwirkung verpflichten, um ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden oder zu verhindern. Demnach verfolgt der Gesetzgeber mit den in § 31 Abs. 1 SGB II geregelten Mitwirkungspflichten legitime Ziele, denn sie sollen Menschen wieder in Arbeit bringen. Die Ausgestaltung der Mitwirkungspflichten ist auch zumutbar. Denn der Gesetzgeber muss hier - anders als im Recht der Arbeitsförderung - keinen Berufsschutz normieren, da das Recht der Sozialversicherung und das Grundsicherungsrecht unterscheiden sich strukturell. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass hier andere als bislang ausgeübte und auch geringerwertige Tätigkeiten zumutbar sind.
Die Entscheidung des Gesetzgebers, legitime Pflichten mit Sanktionen durchzusetzen, ist ebenfalls verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, denn damit verfolgt er ein legitimes Ziel. Die hier zu überprüfenden gesetzlichen Regelungen genügen allerdings dem in diesem Bereich geltenden strengen Maßstab der Verhältnismäßigkeit nicht. Zwar ist die in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II normierte Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs nach den derzeitigen Erkenntnissen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Vorgabe in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, den Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung ohne weitere Prüfung immer zwingend zu mindern, ist allerdings unzumutbar.
Der Gesetzgeber stellt derzeit nicht sicher, dass Minderungen unterbleiben können, wenn sie außergewöhnliche Härten bewirken, insbesondere weil sie in der Gesamtbetrachtung untragbar erscheinen. Er muss solchen Ausnahmesituationen Rechnung tragen, in denen es Menschen zwar an sich möglich ist, eine Mitwirkungspflicht zu erfüllen, die Sanktion aber dennoch im konkreten Einzelfall aufgrund besonderer Umstände unzumutbar erscheint. Nach der hier vorzunehmenden Gesamtabwägung ist es auch unzumutbar, dass die Sanktion der Minderung des Regelbedarfs nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II unabhängig von der Mitwirkung, auf die sie zielt, immer erst nach drei Monaten endet. Der starr andauernde Leistungsentzug überschreitet die Grenzen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums.
Die im Fall der ersten wiederholten Verletzung einer Mitwirkungspflicht nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II vorgegebene Minderung der Leistungen des maßgebenden Regelbedarfs i.H.v. 60 % ist nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen nicht mit dem GG vereinbar. In der Gesamtabwägung der damit einhergehenden gravierenden Belastung mit den Zielen der Durchsetzung von Mitwirkungspflichten zur Integration in den Arbeitsmarkt ist die Regelung in der derzeitigen Ausgestaltung auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse über die Eignung und Erforderlichkeit einer Leistungsminderung in dieser Höhe verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, erneut zu sanktionieren, wenn sich eine Pflichtverletzung wiederholt und die Mitwirkungspflicht tatsächlich nur so durchgesetzt werden kann. Doch ist die Minderung in der Höhe von 60 % des Regelbedarfs unzumutbar, denn die hier entstehende Belastung reicht weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hinein.
Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung bleibt die Leistungsminderung i.H.v. 30 % nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II mit der Maßgabe anwendbar, dass eine Sanktionierung nicht erfolgen muss, wenn dies im konkreten Einzelfall zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Die gesetzlichen Regelungen zur Leistungsminderung um 60 % sowie zum vollständigen Leistungsentzug (§ 31a Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II) sind bis zu einer Neuregelung mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflichtverletzung eine Leistungsminderung nicht über 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen darf und von einer Sanktionierung auch hier abgesehen werden kann, wenn dies zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II zur zwingenden dreimonatigen Dauer des Leistungsentzugs ist bis zu einer Neuregelung mit der Einschränkung anzuwenden, dass die Behörde die Leistung wieder erbringen kann, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, ihren Pflichten nachzukommen.
Linkhinweis:
BVerfG PM Nr. 74 vom 5.11.2019
Im Ausgangsverfahren hatte das zuständige Jobcenter dem Kläger und ausgebildeten Lageristen eine Tätigkeit in einem Lager vermittelt. Der Kläger teilte dem Jobcenter mit, dass er kein Interesse an der angebotenen Tätigkeit im Lager habe, sondern sich für den Verkaufsbereich bewerben wolle. Daraufhin verhängte das Jobcenter gegen den Kläger zunächst eine Sanktion der Minderung des maßgeblichen Regelbedarfes i.H.v. 30 %. Nachdem der Kläger einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein für eine praktische Erprobung im Verkaufsbereich nicht eingelöst hatte, minderte das Jobcenter den Regelbedarf um 60 %.
Nach erfolglosem Widerspruch erhob er Klage vor dem SG, welches das Verfahren aussetzte und im Wege der konkreten Normenkontrolle dem BVerfG die Frage vorlegte, ob die Regelungen in § 31a i.V.m. mit § 31 und § 31b SGB II mit dem GG vereinbar seien. Das BVerfG erklärte die Regelungen teilweise für verfassungswidrig.
Die Gründe:
Die Regelungen staatlicher Sozialleistungen sind mit dem GG vereinbar, soweit sie erwerbsfähige Erwachsene zu einer zumutbaren Mitwirkung verpflichten, um ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden oder zu verhindern. Demnach verfolgt der Gesetzgeber mit den in § 31 Abs. 1 SGB II geregelten Mitwirkungspflichten legitime Ziele, denn sie sollen Menschen wieder in Arbeit bringen. Die Ausgestaltung der Mitwirkungspflichten ist auch zumutbar. Denn der Gesetzgeber muss hier - anders als im Recht der Arbeitsförderung - keinen Berufsschutz normieren, da das Recht der Sozialversicherung und das Grundsicherungsrecht unterscheiden sich strukturell. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass hier andere als bislang ausgeübte und auch geringerwertige Tätigkeiten zumutbar sind.
Die Entscheidung des Gesetzgebers, legitime Pflichten mit Sanktionen durchzusetzen, ist ebenfalls verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, denn damit verfolgt er ein legitimes Ziel. Die hier zu überprüfenden gesetzlichen Regelungen genügen allerdings dem in diesem Bereich geltenden strengen Maßstab der Verhältnismäßigkeit nicht. Zwar ist die in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II normierte Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs nach den derzeitigen Erkenntnissen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Vorgabe in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, den Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung ohne weitere Prüfung immer zwingend zu mindern, ist allerdings unzumutbar.
Der Gesetzgeber stellt derzeit nicht sicher, dass Minderungen unterbleiben können, wenn sie außergewöhnliche Härten bewirken, insbesondere weil sie in der Gesamtbetrachtung untragbar erscheinen. Er muss solchen Ausnahmesituationen Rechnung tragen, in denen es Menschen zwar an sich möglich ist, eine Mitwirkungspflicht zu erfüllen, die Sanktion aber dennoch im konkreten Einzelfall aufgrund besonderer Umstände unzumutbar erscheint. Nach der hier vorzunehmenden Gesamtabwägung ist es auch unzumutbar, dass die Sanktion der Minderung des Regelbedarfs nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II unabhängig von der Mitwirkung, auf die sie zielt, immer erst nach drei Monaten endet. Der starr andauernde Leistungsentzug überschreitet die Grenzen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums.
Die im Fall der ersten wiederholten Verletzung einer Mitwirkungspflicht nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II vorgegebene Minderung der Leistungen des maßgebenden Regelbedarfs i.H.v. 60 % ist nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen nicht mit dem GG vereinbar. In der Gesamtabwägung der damit einhergehenden gravierenden Belastung mit den Zielen der Durchsetzung von Mitwirkungspflichten zur Integration in den Arbeitsmarkt ist die Regelung in der derzeitigen Ausgestaltung auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse über die Eignung und Erforderlichkeit einer Leistungsminderung in dieser Höhe verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, erneut zu sanktionieren, wenn sich eine Pflichtverletzung wiederholt und die Mitwirkungspflicht tatsächlich nur so durchgesetzt werden kann. Doch ist die Minderung in der Höhe von 60 % des Regelbedarfs unzumutbar, denn die hier entstehende Belastung reicht weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hinein.
Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung bleibt die Leistungsminderung i.H.v. 30 % nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II mit der Maßgabe anwendbar, dass eine Sanktionierung nicht erfolgen muss, wenn dies im konkreten Einzelfall zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Die gesetzlichen Regelungen zur Leistungsminderung um 60 % sowie zum vollständigen Leistungsentzug (§ 31a Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II) sind bis zu einer Neuregelung mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflichtverletzung eine Leistungsminderung nicht über 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen darf und von einer Sanktionierung auch hier abgesehen werden kann, wenn dies zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II zur zwingenden dreimonatigen Dauer des Leistungsentzugs ist bis zu einer Neuregelung mit der Einschränkung anzuwenden, dass die Behörde die Leistung wieder erbringen kann, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, ihren Pflichten nachzukommen.
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