12.04.2013

Verbot der Diskriminierung wegen "Behinderung" erfasst auch lang andauernde Krankheiten

Das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung bezieht sich nicht nur auf angeborene Behinderungen oder auf solche, die von Unfällen herrühren. Vielmehr können auch Krankheiten eine Behinderung i.S.d. Gleichbehandlungsrichtlinie darstellen, wenn sie eine physische, geistige oder psychische Einschränkung mit sich bringen, diese Einschränkung von langer Dauer ist und eine volle und wirksame Teilhabe am Berufsleben hindern kann. Unerheblich ist, ob die Krankheit heilbar oder unheilbar ist.

EuGH 11.4.2013, C-335/11 u. 337/11
+++ Der Sachverhalt:
Klägerin des Ausgangsverfahrens ist eine dänische Gewerkschaft. Diese hatte im Namen von zwei Arbeitnehmerinnen Schadensersatzklagen wegen deren Entlassung mit verkürzter Kündigungsfrist erhoben. Hintergrund des Streits ist eine in Dänemark geltende Regelung, wonach Arbeitgeber Arbeitnehmern mit einer verkürzten Frist von einem Monat kündigen können, wenn diese innerhalb der letzten zwölf Monate krankheitsbedingt 120 Tage mit Entgeltfortzahlung abwesend waren.

Die Gewerkschaft machte u.a. geltend, dass die Arbeitgeber den beiden Arbeitnehmerinnen eine Arbeitszeitverkürzung hätten anbieten müssen, da bei ihnen eine Behinderung vorgelegen habe. Auch sei die nationale Bestimmung über die verkürzte Kündigungsfrist auf diese beiden Arbeitnehmerinnen nicht anwendbar, da ihre krankheitsbedingten Fehlzeiten auf die Behinderung zurückzuführen seien.

Das mit den Klagen befasste dänische Gericht setzte den Rechtsstreit aus und legte dem EuGH u.a. die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob auch eine Krankheit eine Behinderung i.S.d. Richtlinie 2000/78 über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf darstellen kann. Der EuGH bejahte dies.

+++ Die Gründe:
Eine heilbare oder unheilbare Krankheit, die eine physische, geistige oder psychische Einschränkung mit sich bringt, kann einer Behinderung i.S.d. Richtlinie 2000/78 gleichzustellen sein. Voraussetzung hierfür ist, dass sie langfristig mit einer Einschränkung insbesondere physischer, geistiger oder psychischer Art verbunden ist und dass diese Einschränkung den Betroffenen an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben - gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern - hindern kann.

Es ist nicht ersichtlich, dass die Richtlinie 2000/78 nur Behinderungen erfassen will, die angeboren sind oder von Unfällen herrühren, und dagegen Behinderungen, die durch eine Krankheit verursacht sind, ausschlösse. Für den Anwendungsbereich dieser Richtlinie je nach Ursache der Behinderung zu differenzieren, würde nämlich ihrem Ziel selbst, die Gleichbehandlung zu verwirklichen, widersprechen.

Für die Gleichstellung einer Krankheit mit einer Behinderung ist auch nicht erforderlich, dass der Arbeitnehmer vollständig arbeitsunfähig ist. Der Begriff der "Behinderung" ist vielmehr so zu verstehen, dass er eine Beeinträchtigung der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit erfasst, ohne dass die Ausübung der Tätigkeit unmöglich sein muss. Der Gesundheitszustand von Menschen mit Behinderung, die - zumindest Teilzeit - arbeiten können, kann daher unter den Begriff "Behinderung" fallen. Eine Behinderung setzt auch nicht voraus, dass der Arbeitnehmer besondere Hilfsmittel benötigt.

+++ Wichtig!
Die Entscheidung befasst sich zudem mit der - eigentlich sowohl im Arbeits- als auch im Sozialversicherungsrecht nicht vorgesehenen - Teil-Arbeitsunfähigkeit und konkret mit der Frage, ob ein schwerbehinderter Arbeitnehmer eine "Wiedereingliederung" gegen Vergütung durch den Arbeitgeber verlangen kann. Lesen Sie hierzu einen ausführlichen Beitrag von Axel Groeger in unserem Experten-Blog ("Teilzeitarbeit anstatt stufenweiser Wiedereingliederung?").

+++ Die Konsequenzen:
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes bezeichnet dieses Urteil als "Meilenstein". Erstmals sei höchstrichterlich klargestellt worden, dass auch chronische Krankheiten eine Behinderung sein könnten.

+++ Linkhinweis:
Der Volltext der Entscheidung ist auf der Homepage des EuGH veröffentlicht. Um direkt zu dem Volltext zu kommen, klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 42 vom 11.4.2013
Zurück