09.08.2023

Vereinfachte Vermögensprüfung in der Corona-Phase: Wann ist Vermögen erheblich?

Das LSG Baden-Württemberg hatte für einen ALG II-Anspruch die Rechtmäßigkeit einer vereinfachten Vermögensprüfung aus der Zeit der Corona-Pandemie zu klären.

LSG Baden-Württemberg v. 28.6.2023 - L 3 AS 3160/21
Der Sachverhalt:
Während der COVID-19-Pandemie kam es durch die zu ihrer Bekämpfung eingesetzten Maßnahmen zu erheblichen Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Mit den sog. Sozialschutz-Paketen ist deswegen durch den Gesetzgeber versucht worden, die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen abzumildern. Hierzu gehören auch Regelungen, die einen einfacheren Zugang zu bestimmten Sozialleistungen ermöglichen sollten. Die Umsetzung gelang in der Praxis jedoch nicht immer problemlos oder einheitlich.

Für die Gewährung von Arbeitslosengeld II nach dem SGB II, dem sog. "Hartz IV", jetzt Bürgergeld, etwa sollte eine Leistungsgewährung vorübergehend auch ohne aufwendige Vermögensprüfung ermöglicht werden. Denn die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II setzen prinzipiell voraus, dass der Antragsteller seinen Lebensunterhalt nicht selbst durch Einkommen und Vermögen sicherstellen kann. Die im März 2020 in Kraft getretene Regelung des § 67 SGB II bestimmte jedoch für während der Corona-Pandemie beginnende Bewilligungszeiträume u.a., dass Vermögen für eine Dauer von sechs Monaten nicht berücksichtigt wird. Dies soll aber nur gelten, soweit das Vermögen nicht "erheblich" ist. Wann Vermögen erheblich ist, gibt die Regelung nicht vor.

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) nimmt in ihren fachlichen Weisungen die Grenze bei einem Vermögen von mehr als 60.000 € für eine Einzelperson an. Hierbei stützt sich die BA auf das Wohngeldrecht. Dieses sieht ebenfalls einen Anspruchsausschluss bei erheblichem Vermögen vor und benennt dazu einen Betrag von mehr als 60.000 € für das erste zu berücksichtigende Haushaltsmitglied. Hierdurch soll eine missbräuchliche Inanspruchnahme verhindert werden. Die fachlichen Weisungen der BA sind nur für die Jobcenter bindend, die von der BA gemeinsam mit einer Kommune getragen werden. Das sind in Baden-Württemberg 33 von 44 Jobcentern. Die weiteren Jobcenter werden nur von einer Stadt oder einem Landkreis getragen (sog. Optionskommunen).

Vor diesem Hintergrund hatte das LSG zu klären, ob das Vermögen des im Landkreis Ravensburg wohnhaften Klägers der Gewährung von Arbeitslosengeld II entgegenstand. Das örtliche zuständige Jobcenter einer Optionskommune verwendete von der BA erstellte Antragsformulare. Auf diesen fand sich die Erläuterung: "Erheblich ist kurzfristig für den Lebensunterhalt verwertbares Vermögen der Antragstellerin/des Antragstellers über 60.000 € sowie über 30.000 € für jede weitere Person in der Bedarfsgemeinschaft."

Der Kläger verneinte darauf ein erhebliches Vermögen. Das Jobcenter lehnte den Antrag ab, da der Kläger nach den vorgelegten Unterlagen über verwertbares Vermögen von rund 54.000 € verfüge. Ein Vermögensfreibetrag von 60.000 € finde im Gesetz keine Stütze. Erhebliches Vermögen liege vielmehr dann vor, wenn im Einzelfall für jedermann offenkundig sei, dass Grundsicherungsleistungen nicht gerechtfertigt seien.

Nach dem SG gab nun auch das LSG dem Kläger recht und wies die Berufung des Jobcenters gegen die erstinstanzliche Entscheidung zurück.

Die Gründe:
Das Vermögen des Klägers liegt unter dem einschlägigen Grenzwert zur Bestimmung erheblichen Vermögens von 60.000 €. Dieser Grenzwert ergibt sich nicht direkt aus dem Wortlaut des SGB II. Auch aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich lediglich, dass ein "wesentlich vereinfachtes Verfahren" eingeführt werden soll, um die "insbesondere bei Erstanträgen oft sehr aufwändig[e]" Vermögensprüfung nicht durchführen zu müssen. Jedoch drängt sich wegen der Funktion und des deckungsgleichen Wortlauts die Parallele zum Wohngeldrecht auf. Diese Auslegung des Begriffs des erheblichen Vermögens erscheint vor dem Hintergrund des Gesetzeszwecks, der Praktikabilität in Massenverfahren während der Pandemie und bei Berücksichtigung des Gleichheitsgrundsatzes vorzugswürdig ggü. einer jeweiligen Festlegung eines individuellen Grenzwerts.

Da im Ergebnis vollkommen offenbleibt, anhand welcher Kriterien der Grenzwert im jeweiligen Einzelfall bestimmt werden soll, ergäbe sich daraus eine erhebliche Rechtsunsicherheit für Betroffene und Rechtsanwender, was dem mit der Regelung verfolgten Zweck der Verwaltungsvereinfachung entgegensteht. Die Erklärung, dass bei einem reinen Geldvermögen die Gewährung existenzsichernder Leistungen für jedermann offenkundig nicht gerechtfertigt ist, lässt sich bei einer Höhe eines Barvermögens von beispielsweise 40.000 € mangels greifbarer Maßstäbe genauso postulieren wie bei 50.000 €. Dies ist auch vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes nicht erstrebenswert.

Mehr zum Thema:

Beratermodul Gaul Aktuelles Arbeitsrecht:
Das perfekte Werk zur schnellen Orientierung im Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht. 4 Wochen gratis nutzen!
 
LSG Baden-Württemberg PM vom 11.7.2023
Zurück