22.09.2022

Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit bzw. voller Erwerbsminderung

Der EuGH hat sich vorliegend mit dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub für das Urlaubsjahr befasst, in dessen Verlauf der Arbeitnehmer vollständig erwerbsunfähig bzw. arbeitsunfähig wurde.

EuGH v. 22.9.2022 - C-518/20 u.a.
Der Sachverhalt:

+++ C-518/20 +++

Ein Arbeitnehmer von Fraport, der infolge einer schweren Behinderung seit Dezember 2014 eine Rente wegen voller, aber nicht dauerhafter Erwerbsminderung bezieht, begehrt die Feststellung, dass ihm für 2014 noch 34 Tage bezahlter Jahresurlaub zustehen, die er aufgrund seines Gesundheitszustands nicht habe nehmen können. Zudem sei Fraport ihrer Obliegenheit nicht nachgekommen, an der Gewährung und Inanspruchnahme des Urlaubs mitzuwirken. Fraport ist der Ansicht, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub für das Jahr 2014 nach Ablauf des im BUrlG vorgesehenen Übertragungszeitraums am 31.3.2016 erloschen sei. Der Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers, der aus gesundheitlichen Gründen lang andauernd außerstande sei, seinen Urlaub zu nehmen, verfalle nämlich 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seiner Obliegenheit, dem Arbeitnehmer die Inanspruchnahme dieses Urlaubs zu ermöglichen, nachgekommen sei.

+++ C-727/20 +++
In diesem Fall begehrt eine Angestellte des St. Vincenz-Krankenhauses, die seit ihrer Erkrankung im Jahr 2017 arbeitsunfähig ist, die Feststellung, dass ihr für das Jahr 2017 noch 14 Tage bezahlter Urlaub zustehen. Sie macht geltend, ihr Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub sei nicht wegen ihrer fortbestehenden Arbeitsunfähigkeit erloschen, da ihr Arbeitgeber es unterlassen habe, sie rechtzeitig auf den drohenden Verfall der Urlaubstage hinzuweisen. Das St. Vincenz-Krankenhaus ist der Ansicht, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub für das Jahr 2017 gem. BUrlG am 31.3.2019 erloschen sei.

Das in der Revisionsinstanz mit den beiden verbundenen Rechtssachen befasste BAG fragt sich, ob die im BUrlG vorgesehene Regel, wonach ein Urlaub, der im Fall einer lang andauernden Arbeitsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht genommen wurde, verfällt, obwohl der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch in dem Arbeitszeitraum vor seiner vollen Erwerbsminderung tatsächlich auszuüben, mit der Richtlinie 2003/88 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung vereinbar ist, wonach jeder Arbeitnehmer Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen hat. Das BAG hat das Verfahren der verbundenen Rechtssachen ausgesetzt und dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Die Gründe:
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union stehen einer nationalen Regelung entgegen, nach der der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub, den er in einem Bezugszeitraum erworben hat, in dessen Verlauf er tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit arbeitsunfähig geworden ist, entweder nach Ablauf eines nach nationalem Recht zulässigen Übertragungszeitraums oder später auch dann erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch auszuüben.

Im Urteil KHS von 2011 hat der EuGH unter den besonderen Umständen, dass ein Arbeitnehmer während mehrerer aufeinanderfolgender Bezugszeiträume arbeitsunfähig ist, zwar entschieden, dass die Richtlinie einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten nicht entgegensteht, die die Möglichkeit für einen während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmer, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränken, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt. Er hat allerdings auch entschieden, dass es dem Arbeitgeber obliegt, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben.

Vorliegend beschränkten sich die betroffenen Arbeitnehmer darauf, die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub geltend zu machen, die sie für den Bezugszeitraum erworben haben, in dem sie zum Teil erwerbstätig und zum Teil voll erwerbsgemindert oder krankheitsbedingt arbeitsunfähig waren. Es besteht daher nicht die Gefahr der negativen Folgen einer unbeschränkten Ansammlung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub. Daher erscheint ein Schutz der Interessen des Arbeitgebers nicht unbedingt erforderlich und wäre daher a priori nicht geeignet, eine Ausnahme vom Anspruch des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub zu rechtfertigen. Damit hindert die zeitliche Begrenzung, die der EuGH im Urteil KHS für zulässig erklärt hat, gewiss den Arbeitnehmer daran, den Erhalt sämtlicher Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, die er während seiner längeren Abwesenheit vom Arbeitsplatz in mehreren aufeinanderfolgenden Bezugszeiträumen erworben hat, einzufordern.

Eine solche Beschränkung kann jedoch nicht auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub angewandt werden, der im Lauf eines Bezugszeitraums erworben wurde, in dem der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder arbeitsunfähig wurde, ohne dass geprüft wurde, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch geltend zu machen. Denn eine solche Situation liefe darauf hinaus, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub inhaltlich auszuhöhlen.

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