Verfall von Urlaubsansprüchen und Beweislast des Arbeitgebers
LAG Berlin-Brandenburg v. 12.5.2023 - 12 Sa 1250/22
Der Sachverhalt:
Zwischen den Parteien bestand seit Juli 1988 ein Arbeitsverhältnis. Dieses richtete sich nach den Bestimmungen des Bundesmanteltarifvertrages für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G II) vom 31.1.1962 mit den zusätzlich abgeschlossenen Tarifverträgen sowie den an ihre Stelle tretenden Tarifverträgen - alle in ihrer jeweils geltenden Fassung -. Der 43-jährige Kläger ist seit 2005 als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Seit Oktober 2006 war er dauerhaft arbeitsunfähig. Er erhielt mehrfach, erstmalig ab Oktober 2006 eine befristete Erwerbsminderungsrente bewilligt. Am 25.6.2019 teilte die Deutsche Rentenversicherung dem Kläger mit, dass die ihm seit September 2006 gewährte Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Ende September 2026 als Dauerrente weitergewährt werde.
Am 2.7.2019 übersandte der Kläger den Rentenbescheid und wies auf die in dessen Folge eingetretene Beendigung des Arbeitsverhältnisses hin. Außerdem bat er um Abgeltung des zustehenden Urlaubs. Der Urlaub werde innerhalb der gesetzlichen Verjährung von drei Jahren und damit für die Jahre 2016 bis 2019 geltend gemacht. Am 31.7.2019 bestätigte das beklagte Land die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.6.2019. Mit Abrechnung für August 2019 brachte es Urlaubsabgeltung für je 20 Tage gesetzlichen Mindesturlaub für 2018 und 2019 sowie von je fünf Tagen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen zur Auszahlung.
Der Kläger hat daraufhin die Zahlung von Urlaubsabgeltung seit 2006 gerichtlich geltend gemacht und zwar für je 35 Urlaubstage für die Jahre bis 2017 (20 Tage gesetzlicher Urlaub, fünf Tage Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen, 10 Tage tariflicher Mehrurlaub) sowie zehn Tage tariflichen Mehrurlaub für 2018. Er war der Ansicht, infolge der seitens der Beklagten unterbliebenen Mitwirkung an der Urlaubsverwirklichung in Gestalt der gebotenen Belehrung über Bestehen und drohenden Verfall von Urlaubsansprüchen sei ein Verfall des Urlaubs nicht eingetreten. Vielmehr seien die Ansprüche seit 2006 jeweils in das Folgejahr übertragen worden und hätten sich mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses in Zahlungsansprüche verwandelt.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das LAG hat die Entscheidung bestätigt.
Die Gründe:
Abgeltung von Urlaubsansprüchen für die Jahre 2007 bis 2017 konnte der Kläger nicht beanspruchen. Die zur Abgeltung herangezogenen Urlaubsansprüche waren hinsichtlich des tarifvertraglichen Mehrurlaubs bereits nicht entstanden und jedenfalls insgesamt vor Eintritt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses erloschen.
Die Frage nach den vorliegend zu beurteilenden Auswirkungen eines Zusammentreffens von Versäumung der Mitwirkungspflicht und langfristig fortbestehender Arbeitsunfähigkeit ist durch die in dem vorliegenden Verfahren abgewartete EuGH-Entscheidung und die in der Folge ergangene BAG-Rechtsprechung geklärt. Danach kann die zeitliche Beschränkung eines Urlaubsanspruchs nicht auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub angewandt werden, der im Lauf eines Bezugszeitraums erworben wurde, in dem der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder arbeitsunfähig wurde, ohne dass geprüft wurde, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch geltend zu machen (EuGH 22.9.2022 - C-518/20 und C-727/20, Fraport).
War dagegen der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31.3. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres arbeitsunfähig bzw. voll erwerbsgemindert, verfällt der Urlaubsanspruch weiterhin nach Ablauf der 15-Monatsfrist unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen ist (BAG, 20.12.2022 - 9 AZR 401/19). Dies ist darin begründet, dass in dem zuletzt genannten Fall nicht Handlungen oder Unterlassungen des Arbeitgebers, sondern allein die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers für den Verfall des Urlaubs kausal ist. Eine Urlaubsnahme durch den Arbeitnehmer scheidet aus, weil er bereits wegen Unmöglichkeit, die Arbeitsleistung zu erbringen, von der Arbeitsleistung befreit ist. In Anwendung dieser Grundsätze waren vorliegend die Urlaubsansprüche des Klägers für 2007 bis 2017 vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Ablauf des 30.6.2019 verfallen.
Abgeltung für Urlaubsansprüche aus 2006 konnte der Kläger ebenfalls nicht beanspruchen. Der Arbeitgeber, der sich auf das Erlöschen der Urlaubsansprüche mit Ende von Urlaubsjahr und Übertragungszeitraum beruft, ist darlegungs- und beweisbelastet dafür, dass der Arbeitnehmer während des gesamten Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankt oder erwerbsgemindert war und deshalb die Versäumung der arbeitgeberseitigen Mitwirkungspflicht bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs das Erlöschen von Urlaubsansprüchen nach § 7 Absatz 3 BUrlG nicht hindert. Unbeschadet hiervon bleiben aber sekundäre Darlegungslasten des Arbeitnehmers, wie sie insbesondere dann in Betracht kommen, wenn der Arbeitgeber als primär darlegungsbelastete Partei außerhalb des fraglichen Geschehensablaufs steht, während der Arbeitnehmer aufgrund seiner Sachnähe die wesentlichen Tatsachen kennt.
In einer solchen Situation kann der Arbeitnehmer gehalten sein, dem Arbeitgeber durch nähere Angaben weiteren Sachvortrag zu ermöglichen. In Anwendung dieser Grundsätze war die Kammer vorliegend zu der Überzeugung gelangt, dass das Vorbringen des beklagten Landes zu einer während des gesamten Urlaubsjahres 2006 bestehenden Arbeitsunfähig zu Grunde gelegt werden durfte.
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Zwischen den Parteien bestand seit Juli 1988 ein Arbeitsverhältnis. Dieses richtete sich nach den Bestimmungen des Bundesmanteltarifvertrages für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G II) vom 31.1.1962 mit den zusätzlich abgeschlossenen Tarifverträgen sowie den an ihre Stelle tretenden Tarifverträgen - alle in ihrer jeweils geltenden Fassung -. Der 43-jährige Kläger ist seit 2005 als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Seit Oktober 2006 war er dauerhaft arbeitsunfähig. Er erhielt mehrfach, erstmalig ab Oktober 2006 eine befristete Erwerbsminderungsrente bewilligt. Am 25.6.2019 teilte die Deutsche Rentenversicherung dem Kläger mit, dass die ihm seit September 2006 gewährte Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Ende September 2026 als Dauerrente weitergewährt werde.
Am 2.7.2019 übersandte der Kläger den Rentenbescheid und wies auf die in dessen Folge eingetretene Beendigung des Arbeitsverhältnisses hin. Außerdem bat er um Abgeltung des zustehenden Urlaubs. Der Urlaub werde innerhalb der gesetzlichen Verjährung von drei Jahren und damit für die Jahre 2016 bis 2019 geltend gemacht. Am 31.7.2019 bestätigte das beklagte Land die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.6.2019. Mit Abrechnung für August 2019 brachte es Urlaubsabgeltung für je 20 Tage gesetzlichen Mindesturlaub für 2018 und 2019 sowie von je fünf Tagen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen zur Auszahlung.
Der Kläger hat daraufhin die Zahlung von Urlaubsabgeltung seit 2006 gerichtlich geltend gemacht und zwar für je 35 Urlaubstage für die Jahre bis 2017 (20 Tage gesetzlicher Urlaub, fünf Tage Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen, 10 Tage tariflicher Mehrurlaub) sowie zehn Tage tariflichen Mehrurlaub für 2018. Er war der Ansicht, infolge der seitens der Beklagten unterbliebenen Mitwirkung an der Urlaubsverwirklichung in Gestalt der gebotenen Belehrung über Bestehen und drohenden Verfall von Urlaubsansprüchen sei ein Verfall des Urlaubs nicht eingetreten. Vielmehr seien die Ansprüche seit 2006 jeweils in das Folgejahr übertragen worden und hätten sich mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses in Zahlungsansprüche verwandelt.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das LAG hat die Entscheidung bestätigt.
Die Gründe:
Abgeltung von Urlaubsansprüchen für die Jahre 2007 bis 2017 konnte der Kläger nicht beanspruchen. Die zur Abgeltung herangezogenen Urlaubsansprüche waren hinsichtlich des tarifvertraglichen Mehrurlaubs bereits nicht entstanden und jedenfalls insgesamt vor Eintritt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses erloschen.
Die Frage nach den vorliegend zu beurteilenden Auswirkungen eines Zusammentreffens von Versäumung der Mitwirkungspflicht und langfristig fortbestehender Arbeitsunfähigkeit ist durch die in dem vorliegenden Verfahren abgewartete EuGH-Entscheidung und die in der Folge ergangene BAG-Rechtsprechung geklärt. Danach kann die zeitliche Beschränkung eines Urlaubsanspruchs nicht auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub angewandt werden, der im Lauf eines Bezugszeitraums erworben wurde, in dem der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder arbeitsunfähig wurde, ohne dass geprüft wurde, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch geltend zu machen (EuGH 22.9.2022 - C-518/20 und C-727/20, Fraport).
War dagegen der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31.3. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres arbeitsunfähig bzw. voll erwerbsgemindert, verfällt der Urlaubsanspruch weiterhin nach Ablauf der 15-Monatsfrist unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen ist (BAG, 20.12.2022 - 9 AZR 401/19). Dies ist darin begründet, dass in dem zuletzt genannten Fall nicht Handlungen oder Unterlassungen des Arbeitgebers, sondern allein die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers für den Verfall des Urlaubs kausal ist. Eine Urlaubsnahme durch den Arbeitnehmer scheidet aus, weil er bereits wegen Unmöglichkeit, die Arbeitsleistung zu erbringen, von der Arbeitsleistung befreit ist. In Anwendung dieser Grundsätze waren vorliegend die Urlaubsansprüche des Klägers für 2007 bis 2017 vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Ablauf des 30.6.2019 verfallen.
Abgeltung für Urlaubsansprüche aus 2006 konnte der Kläger ebenfalls nicht beanspruchen. Der Arbeitgeber, der sich auf das Erlöschen der Urlaubsansprüche mit Ende von Urlaubsjahr und Übertragungszeitraum beruft, ist darlegungs- und beweisbelastet dafür, dass der Arbeitnehmer während des gesamten Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankt oder erwerbsgemindert war und deshalb die Versäumung der arbeitgeberseitigen Mitwirkungspflicht bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs das Erlöschen von Urlaubsansprüchen nach § 7 Absatz 3 BUrlG nicht hindert. Unbeschadet hiervon bleiben aber sekundäre Darlegungslasten des Arbeitnehmers, wie sie insbesondere dann in Betracht kommen, wenn der Arbeitgeber als primär darlegungsbelastete Partei außerhalb des fraglichen Geschehensablaufs steht, während der Arbeitnehmer aufgrund seiner Sachnähe die wesentlichen Tatsachen kennt.
In einer solchen Situation kann der Arbeitnehmer gehalten sein, dem Arbeitgeber durch nähere Angaben weiteren Sachvortrag zu ermöglichen. In Anwendung dieser Grundsätze war die Kammer vorliegend zu der Überzeugung gelangt, dass das Vorbringen des beklagten Landes zu einer während des gesamten Urlaubsjahres 2006 bestehenden Arbeitsunfähig zu Grunde gelegt werden durfte.
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