27.08.2020

§ 8b Abs. 4 KStG und § 9 Nr. 2a GewStG sind verfassungsgemäß

§ 8b Abs. 4 KStG i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung des EuGH-Urteils vom 20.10.2011 in der Rechtssache C-284/09 vom 21.03.2013 (BGBl I 2013, 561, BStBl I 2013, 344) sowie § 9 Nr. 2a GewStG i.d.F. des UntStRefG 2008 vom 14.08.2007 (BGBl I 2007, 1912, BStBl I 2007, 630) sind mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

Kurzbesprechung
BFH v. 18.12.2019 - I R 29/17

GG Art 3 Abs. 1
KStG § 8b Abs. 4
GewStG § 9 Nr. 2a
EG Art 56 Abs. 1
AEUV Art. 63
EWGRL 435/90 Art 3 Abs. 1 Buchst a


Der EuGH hatte durch Urteil Kommission/ Deutschland vom 20.10.2011 - C-284/09 (EU:C:2011:670, Slg. 2011, I-9879) entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 56 Abs. 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft i.d.F. des Vertrags von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte --EG-- (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- 2002, Nr. C 325, 1), jetzt Art. 63 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union i.d.F. des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2008, Nr. C 115, 47) verstoßen hat, indem sie für den Fall, dass die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Mutter-Tochter-Richtlinie vorgesehene Mindestbeteiligung der Muttergesellschaft am Kapital der Tochtergesellschaft nicht erreicht ist, Dividenden, die an Gesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten ausgeschüttet werden, wirtschaftlich einer höheren Besteuerung unterwarf als Dividenden, die an Gesellschaften mit Sitz in Deutschland ausgeschüttet wurden. Zugleich hatte der EuGH auf einen Verstoß gegen Art. 40 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen vom 02.05.1992, ABlEG 1994, Nr. L 1, 3) erkannt, soweit Dividenden, die an Gesellschaften mit Sitz in Island oder in Norwegen ausgeschüttet werden, wirtschaftlich einer höheren Besteuerung unterworfen werden als Dividenden, die an Gesellschaften mit Sitz in Deutschland ausgeschüttet werden.

Der Gesetzgeber hat darauf mit der Neufassung von § 8b Abs. 4 KStG reagiert, wonach Streubesitzdividenden aus der Steuerbefreiung des §8b Abs.  1 KStG ausgenommen werden, während Veräußerungsgewinne weiter steuerfrei bleiben. Die zunächst im Rahmen der Protokollerklärung zum Vermittlungsverfahren erwogene Ausdehnung des § 8b Abs. 4 Satz 1 KStG auf Veräußerungsgewinne, die später dann in einen Entwurf des Bundesministeriums der Finanzen zu einem Investmentsteuerreformgesetz mündete, wurde nicht umgesetzt.

§ 8b Abs. 4 KStG durchbricht im Sinne einer nicht folgerichtigen Ausgestaltung die in § 8b Abs. 1 KStG zum Ausdruck kommende Grundentscheidung des Gesetzgebers, im System des Halb- bzw. Teileinkünfteverfahrens erwirtschaftete Gewinne nur einmal bei der erwirtschaftenden Körperschaft mit Körperschaftsteuer und erst bei der Ausschüttung an natürliche Personen als Anteilseigner mit Einkommensteuer zu besteuern und deswegen zur Vermeidung von Kumulations- oder Kaskadeneffekten in Beteiligungsketten Bezüge innerhalb gesellschaftlicher Beteiligungsstrukturen bei der Ermittlung des Einkommens außer Ansatz zu lassen. Demgemäß wird seit der Einführung des Halbeinkünfteverfahrens die Steuerbelastung der körperschaftlichen Gewinne durch die in § 8b Abs. 1 KStG gewährte Steuerfreistellung typisierend gemindert. Dadurch soll --dem Sinn und Zweck des Halbeinkünfteverfahrens entsprechend-- sichergestellt werden, dass die Körperschaftsteuerbelastung auf die Ebene der operativen Körperschaften beschränkt wird und Ausschüttungen nur bei nicht korporierten Gesellschaften nach Maßgabe der Milderungen in § 3 Nr. 40 EStG --und damit entsprechend einer am Leistungsfähigkeitsprinzip orientierten Gesamtbelastung-- besteuert werden.

Die in § 8b Abs. 1 KStG verankerte Steuerfreistellung wird allerdings durch die Ausnahme des § 8b Abs. 4 KStG für sog. Streubesitzdividenden eingeschränkt und damit das der Herstellung einer leistungsfähigkeitskonformen Gesamtbelastung dienende System der Steuerfreistellung von Dividenden durchbrochen. Indessen ist diese Durchbrechung nach der Überzeugung des BFH verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Denn der Gesetzgeber hat durch die Einführung des § 8b Abs. 4 KStG erkennbar keinen Prinzipien- bzw. Systemwechsel vorgenommen, der als solcher eine Ausnahme vom Folgerichtigkeitsgebot rechtfertigen würde. Zwar kann ein solcher Prinzipien- und Systemwechsel auch schrittweise implementiert werden, wenn sich dies an einem umzusetzenden Grundkonzept orientiert. Eine derartige Absicht hat der Gesetzgeber aber nicht zum Ausdruck gebracht. Die Ankündigung des Gesetzgebers, im Rahmen der anstehenden Investmentsteuerreform die Ausweitung der Steuerpflicht auf Veräußerungsgewinne aus Streubesitz nochmals "ergebnisoffen aufgreifen" zu wollen, lässt schon ihrer Formulierung nach nicht auf das Vorhandensein eines planvollen Grundkonzepts schließen, zumal die Ankündigung später nicht weiterverfolgt wurde.

Auch die Erwägung des Gesetzgebers, die Belastungsentscheidung sei zur Haushaltskonsolidierung erforderlich, führt nach der Rechtsprechung des BVerfG für sich genommen nicht zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des § 8b Abs. 4 KStG. Indessen ist die Herstellung einer europarechtskonformen Rechtslage zur Abgrenzung der Besteuerungshoheiten der betroffenen Fisci als hinreichender Rechtfertigungsgrund im Sinne eines qualifizierten Fiskalzwecks anzusehen, auch wenn im Gesetzgebungsverfahren die Frage der Haushaltskonsolidierung im Vordergrund gestanden haben mag.

Der Gesetzgeber hat sich insoweit auf die Stellungnahme des Bundesrates zum JStG 2013 gestützt, die Steuerbefreiung für Streubesitzdividenden auf das EU-rechtliche Minimum zu begrenzen. Eine vollständige Steuerfreistellung auch für Gesellschaften mit Sitz in anderen EU-/EWR-Staaten wäre über die Vorgaben der Mutter-Tochter-Richtlinie hinausgegangen. Die Mutter-Tochter-Richtlinie verlangt lediglich bei einer Mindestbeteiligung von 10 % eine Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle für von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschüttete Gewinne, auch wenn damit lediglich Mindestanforderungen formuliert sind, die die Möglichkeit offen lassen, auch bei einer niedrigeren Beteiligungsquote vom Steuerabzug an der Quelle abzusehen.

Im Streitfall hatte das FG insoweit zutreffend darauf abgestellt, dass eine innerstaatliche Regelung mit einer vollständigen Befreiung vom Steuerabzug unabhängig von der Beteiligungsquote bei ausländischen Beteiligten häufig nicht deren Steuerlast mindern, sondern lediglich dem Ansässigkeitsstaat dieser Beteiligten die Anrechnung der in Deutschland einbehaltenen Kapitalertragsteuer auf die dortige Steuer ersparen und damit auch die Möglichkeit eines Quellensteuerabzugs entsprechend Art. 10 Abs. 2 des Musterabkommens der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD-Musterabkommen --OECD-MustAbk--) und entsprechender Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) obsolet machen würde.

Der Gesetzgeber hätte zwar mit einer vollständigen Steuerfreistellung auch für Anteilseigner Körperschaften mit Sitz in anderen EU-/EWR-Staaten die zuvor in § 8b Abs. 1, Abs. 2 KStG zum Ausdruck gekommene Grundentscheidung weiterführen und damit den Anforderungen des EuGH entsprechen können. Dies würde jedoch der Abgrenzung der Besteuerungsrechte sowohl nach Maßgabe der Mutter-Tochter-Richtlinie als auch der Art. 10 Abs. 2 OECD-MustAbk entsprechenden Regelungen in den jeweils einschlägigen DBA widerstreiten. Aus Sicht des BFH steht es dem Gesetzgeber in einer solchen Situation frei, den beschriebenen Zielkonflikt unter Einbeziehung von Streubesitzdividenden in die Steuerpflicht aufzulösen.

Die vorstehenden Erwägungen gelten entsprechend für § 9 Nr. 2a GewStG, der ebenfalls mit den Vorgaben der Verfassung vereinbar ist.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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