13.10.2022

Behandlung ausländischer Krankengeldzahlungen und Kapitaleinkünfte im Rahmen der fiktiven unbeschränkten Steuerpflicht und des Progressionsvorbehalts

1. Für die Berechnung der sog. Wesentlichkeitsgrenzen nach § 1 Abs. 3 Satz 2 EStG als Voraussetzung für die fiktive unbeschränkte Steuerpflicht sind auf der ersten Stufe (Ermittlung des Welteinkommens) Einnahmen, die unter Zugrundelegung deutschen Einkommensteuerrechts grundsätzlich steuerbar, aber ‑‑z.B. nach § 3 EStG‑‑ steuerfrei wären (im Streitfall: aus den Niederlanden stammende Krankengeldzahlungen), nicht einzubeziehen. Solche Einnahmen sind aber ggf. im Rahmen der Bemessung des Progressionsvorbehalts zur Berechnung des besonderen Steuersatzes nach § 32b EStG zu berücksichtigen.
2. Bei der Bemessung des Progressionsvorbehalts bleiben ausländische Kapitaleinkünfte außer Betracht, die bei einem inländischen Sachverhalt der Abgeltungsteuer unterliegen würden.

Kurzbesprechung
BFH v. 01. 6. 2022 - I R 3/18

EStG § 1 Abs 3 S 2, § 3 Nr. 1 Buchst a, § 32b Abs 1 S 1 Nr. 5

Der Steuerpflichtige ist als Erbe Rechtsnachfolger seiner in 2013 verstorbenen Schwester S. Diese wohnte im Königreich der Niederlande (Niederlande) und erzielte im Streitjahr (2012) aus ihrer in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) in einer dort belegenen Praxis ausgeübten Tätigkeit als Physiotherapeutin Einkünfte aus selbständiger Arbeit. In den Niederlanden erzielte S im Streitjahr Zinseinkünfte und erhielt Krankengeld des niederländischen Sozialversicherungsträgers Uitvoeringsinstituut Werknemersverzekeringen (UWV). S war freiwilliges Mitglied dieser Versicherung und hatte Beiträge zu entrichten.

Gesetzliche Grundlage für das Krankengeld ist das Ziektewet als niederländisches Krankengeldgesetz. Das Krankengeld war auf der Grundlage der gesetzlichen Bestimmungen für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit (ausgenommen Samstag und Sonntag) auszuzahlen. Freiwillig versicherte Personen hatten Anspruch auf Krankengeld, wenn sie aufgrund von Krankheit, Schwangerschaft oder Geburt nicht in der Lage waren, ihre gewohnte Arbeit zu verrichten.

Das Krankengeld und die Kapitaleinkünfte wurden vom niederländischen Fiskus besteuert. Der Steuerpflichtige beantragte beim FA, S im Rahmen der sog. fiktiven unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig zu behandeln. Das FA verneinte dies, weil die niederländischen Krankengeldzahlungen bei der Prüfung der sog. Wesentlichkeitsgrenzen des § 1 Abs. 3 Satz 2 EStG als ausländische Einkünfte zu berücksichtigen seien. Es besteuerte die inländischen Einkünfte daher unter Annahme der beschränkten Steuerpflicht der S.

Die dagegen erhobene Klage hatte Erfolg. Im Revisionsverfahren kam der BFH zu dem Ergebnis, dass das FG zwar zu Recht entschieden hatte, dass die inländischen Einkünfte der S für das Streitjahr unter Anwendung des § 1 Abs. 3 EStG zu ermitteln sind. Jedoch ist bei der Bemessung des besonderen Steuersatzes im Rahmen des Progressionsvorbehalts nach § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 EStG das in den Niederlanden bezogene Krankengeld zu berücksichtigen.

Nach § 1 Abs. 3 Satz 1 EStG werden auch natürliche Personen als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt, die im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, soweit sie inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG haben. Dies gilt nach Satz 2 Halbsatz 1 der Vorschrift nur, wenn ihre Einkünfte im Kalenderjahr mindestens zu 90 % der deutschen Einkommensteuer unterliegen (sog. relative Wesentlichkeitsgrenze) oder die nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte den Grundfreibetrag nach § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG nicht übersteigen (sog. absolute Wesentlichkeitsgrenze).

Durch das Jahressteuergesetz 2008 ‑‑JStG 2008‑‑ vom 20.12.2007 (BGBl I 2007, 3150) wurde § 1 Abs. 3 EStG um einen Satz 4 ergänzt, nach welchem bei der Ermittlung der Einkünfte nach Satz 2 nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegende Einkünfte, die im Ausland nicht besteuert werden, soweit vergleichbare Einkünfte im Inland steuerfrei sind, unberücksichtigt bleiben.

Die Einkünfteermittlung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 EStG vollzieht sich in zwei Stufen. Zunächst ist in einem ersten Schritt die Summe der Welteinkünfte, d.h. die Summe sämtlicher Einkünfte unabhängig davon zu ermitteln, ob sie im In- oder Ausland erzielt wurden; die Prüfung beruht auf der Annahme einer unbeschränkten Einkommensteuerpflicht. Die auf diese Weise bestimmten Einkünfte (Welteinkünfte) sind sodann in einem zweiten Schritt in die Einkünfte, die der deutschen Einkommensteuer unterliegen, und die Einkünfte, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, aufzuteilen.

Die auf der ersten Stufe zu ermittelnden Einkünfte (Welteinkünfte) sind nach Maßgabe des deutschen Einkommensteuerrechts zu ermitteln. Einnahmen, die ‑‑z.B. nach § 3 EStG‑‑ steuerfrei sind, d.h. bei der Ermittlung der Einkünfte nicht berücksichtigt werden, sind daher nicht in die Prüfung der Einkunftsgrenzen einzubeziehen.

Aus diesen Maßgaben folgt, dass das von S im Streitjahr empfangene Krankengeld bei der Bemessung der Wesentlichkeitsgrenzen nach § 1 Abs. 3 Satz 2 EStG nicht zu berücksichtigen war, weil es sich auf der Basis deutschen Einkommensteuerrechts um steuerfreie Einnahmen gemäß § 3 Nr. 1 Buchst. a EStG handelt. Der Umstand, dass das von S empfangene Krankengeld in den Niederlanden besteuert worden ist, führt nicht zu dessen Berücksichtigung im Rahmen der Ermittlung der Wesentlichkeitsgrenzen des § 1 Abs. 3 Satz 2 EStG. Da die Ermittlung der Welteinkünfte auf der ersten Berechnungsstufe auf der Grundlage des deutschen Steuerrechts zu erfolgen hat, kommt es auf die steuerliche Behandlung der betreffenden Einkünfte durch den Wohnsitzstaat grundsätzlich nicht an.

Bei der Bemessung des Progressionsvorbehalts zur Berechnung des besonderen Steuersatzes nach Maßgabe von § 32b EStG hatte das FG zu Recht die niederländischen Zinseinkünfte nicht berücksichtigt. Dies folgt aus § 2 Abs. 5b EStG, der bestimmt, dass Kapitalerträge nach § 32d Abs. 1 und § 43 Abs. 5 EStG nicht einzubeziehen sind, soweit Rechtsnormen des Einkommensteuergesetzes an die in § 2 Abs. 1 bis 5a EStG definierten Begriffe (Einkünfte, Summe der Einkünfte, Gesamtbetrag der Einkünfte, Einkommen, zu versteuerndes Einkommen) anknüpfen. Einzubeziehen war jedoch entgegen der Auffassung des FG das von der UWV bezogene Krankengeld.

Die Berücksichtigung des Krankengelds im Rahmen des Progressionsvorbehalts folgt aus § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 EStG. Nach dieser Vorschrift sind Einkünfte, die bei Anwendung von § 1 Abs. 3 EStG bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens unberücksichtigt bleiben, weil sie nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegen, in den Progressionsvorbehalt einzubeziehen. Anders als bei der Berechnung der Wesentlichkeitsgrenzen nach § 1 Abs. 3 Satz 2 EStG ist die hypothetische Steuerfreiheit der Krankengeldbezüge bei Anwendung deutschen Einkommensteuerrechts nach § 3 Nr. 1 Buchst. a EStG für den Bereich des Progressionsvorbehalts kein Grund, diese Einkünfte unberücksichtigt zu lassen. Denn der Progressionsvorbehalt zielt vielmehr gerade darauf ab, solche Einkünfte in die Progressionswirkung des Einkommensteuertarifs einzubeziehen, die aufgrund ihrer Steuerfreiheit nicht in die steuerliche Bemessungsgrundlage eingehen. Das zeigt sich z.B. an § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG, der das auf der Grundlage des SGB V gewährte Krankengeld in den Progressionsvorbehalt einbezieht.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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