Einkommensteuerschuld als Nachlassverbindlichkeit
BFH v. 11.7.2019, II R 36/16
Der Sachverhalt:
Die Klägerin und ihre beiden Brüder sind (zu jeweils 25 %) drei von fünf Miterben des 2007 verstorbenen A. Das Finanzamt setzte die Erbschaftsteuer gegenüber der Klägerin im März 2008 auf 77.066 € fest. Der Bescheid wurde bestandskräftig. Mit Änderungsbescheid aus Juli 2012 setzte das für die Einkommensteuer des A zuständige Finanzamt gegenüber der Klägerin als Beteiligte der Erbengemeinschaft Einkommensteuer, Zinsen und Solidaritätszuschlag für das Jahr 2007 fest, die zu einem Nachzahlungsbetrag i.H.v. 180.347 € führten. Bei der Berechnung der Erbschaftsteuer war dieser Betrag nicht als Nachlassverbindlichkeit abgezogen worden.
Die Klägerin beantrage, die mit Einkommensteuerbescheid aus Juli 2012 festgesetzte Steuer unter Änderung des Erbschaftsteuerbescheids aus März 2008 zu 1/3 als Nachlassverbindlichkeit abzuziehen. Die Klägerin und ihre beiden Brüder trügen die Schuld allein. Das Finanzamt lehnte die Änderung jedoch ab, da mit Ablauf des Jahres 2011 Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage statt. Auf die Revision des Finanzamtes hob der BFH das Urteil auf und wies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.
Gründe:
Es fehlten Feststellungen zu der Frage, mit welcher Einkommensteuerfestsetzung zum Todeszeitpunkt zu rechnen war und ob und ggf. wann sich insoweit später die Verhältnisse geändert haben könnten.
Im Streitfall war die Steuer für den nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG steuerpflichtigen Erwerb der Steuerpflichtigen von Todes wegen gem. § 9 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG mit dem Tode des Erblassers entstanden. Für die Ermittlung der nach § 10 Abs. 1 Satz 1 ErbStG als steuerpflichtiger Erwerb geltenden Bereicherung des Erwerbers gilt als Bereicherung der Betrag, der sich ergibt, wenn von dem nach § 12 ErbStG zu ermittelnden Wert des gesamten Vermögensanfalls, soweit er der Besteuerung nach diesem Gesetz unterliegt, die nach den Absätzen 3 bis 9 abzugsfähigen Nachlassverbindlichkeiten mit ihrem nach § 12 ErbStG zu ermittelnden Wert abgezogen werden.
Zu den Nachlassverbindlichkeiten gehören diejenigen Steuerschulden, die im Zeitpunkt des Todes des Erblassers bereits rechtlich entstanden waren. Namentlich die Einkommensteuer entsteht grundsätzlich gem. § 38 AO i.V.m. § 36 Abs. 1 EStG mit Ablauf des Veranlagungszeitraums. Zu den abzugsfähigen Nachlassverbindlichkeiten i.S.d. § 10 Abs. 5 Nr. 1 ErbStG gehören aber nicht nur die Steuerschulden, die zum Zeitpunkt des Erbfalls bereits rechtlich entstanden waren, sondern auch die Steuerverbindlichkeiten, die der Erblasser als Steuerpflichtiger durch die Verwirklichung von Steuertatbeständen begründet hat und die mit dem Ablauf des Todesjahres entstehen. Die Festsetzung der Steuer ist nicht Voraussetzung ihrer Entstehung, sondern setzt nach § 85 Satz 1 AO die Entstehung voraus.
Steuerschulden können aber wie andere Nachlassverbindlichkeiten nur dann abgezogen werden, wenn sie im Todeszeitpunkt eine wirtschaftliche Belastung dargestellt haben. Daran fehlt es, wenn bei objektiver Würdigung der Verhältnisse in diesem Zeitpunkt nicht damit gerechnet werden konnte, dass der Steuergläubiger seine Forderung geltend machen werde. Fehlt die wirtschaftliche Belastung, findet der Abzug nicht statt.
Die Abziehbarkeit von Steuerschulden wie auch die wirtschaftliche Belastung durch die Steuerschuld hängt regelmäßig nicht davon ab, ob die Steuern beim Erbfall bereits festgesetzt waren oder nicht. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Finanzbehörden entstandene Steuern in der materiell-rechtlich zutreffenden Höhe festsetzen werden (§ 85 AO), so dass die als Nachlassverbindlichkeit abziehbare Steuerschuld für die Festsetzung der Erbschaftsteuer eigenständig zu ermitteln sei. Das folgt aus dem erbschaftsteuerrechtlichen Stichtagsprinzip, das die Wertermittlung einschließlich der Feststellung, welche Nachlassverbindlichkeiten gem. § 10 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Abs. 3 bis 9 ErbStG abziehbar sind, dem Stichtag zuweist.
Die Annahme, dass Steuerschulden in der materiell-rechtlich zutreffenden Höhe festgesetzt werden, gilt aber nicht ausnahmslos. In Steuerhinterziehungsfällen ist die wirtschaftliche Belastung im Todeszeitpunkt zu verneinen, wenn bei objektiver Würdigung der Verhältnisse in diesem Zeitpunkt angenommen werden konnte, dass der Steuergläubiger seine Forderung nicht geltend machen werde. Dies gilt etwa dann, wenn der Steuerpflichtige steuererhebliche Sachverhalte bewusst verheimlicht und mit Inanspruchnahme selbst nicht gerechnet hatte bzw. die Steuerbehörden in einem Auslandssachverhalt noch nicht einmal die theoretische Möglichkeit hatten, von den Steueransprüchen zu erfahren.
Diese Einschränkung gilt nicht nur für die Steuerhinterziehung. Es sind auch weitere Konstellationen denkbar, in denen objektiv nicht mit einer Geltendmachung der Steuerforderung (und damit einer Festsetzung) zu rechnen ist. Das betrifft namentlich Fälle, in denen nach dem Todeszeitpunkt eine Änderung von Verwaltungsauffassung oder Rechtsprechung zu Lasten des Steuerpflichtigen zu verzeichnen ist. In solchen Fällen werden später Steuerforderungen geltend gemacht, mit denen zum Todeszeitpunkt objektiv niemand rechnen konnte. Ändern sich die Verhältnisse nachträglich in der Weise, dass entgegen der Erwartung zum Todeszeitpunkt mit einer Geltendmachung der Steuerforderung zu rechnen ist, ist dies ein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. So wie diese nach dem Todeszeitpunkt erstmals eintretenden Voraussetzungen für die Berücksichtigung von Nachlassverbindlichkeiten rückwirkende Ereignisse sind, gilt dies ebenso für die wirtschaftliche Belastung, wenn sie erstmals nach dem Todeszeitpunkt entsteht.
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Die Klägerin und ihre beiden Brüder sind (zu jeweils 25 %) drei von fünf Miterben des 2007 verstorbenen A. Das Finanzamt setzte die Erbschaftsteuer gegenüber der Klägerin im März 2008 auf 77.066 € fest. Der Bescheid wurde bestandskräftig. Mit Änderungsbescheid aus Juli 2012 setzte das für die Einkommensteuer des A zuständige Finanzamt gegenüber der Klägerin als Beteiligte der Erbengemeinschaft Einkommensteuer, Zinsen und Solidaritätszuschlag für das Jahr 2007 fest, die zu einem Nachzahlungsbetrag i.H.v. 180.347 € führten. Bei der Berechnung der Erbschaftsteuer war dieser Betrag nicht als Nachlassverbindlichkeit abgezogen worden.
Die Klägerin beantrage, die mit Einkommensteuerbescheid aus Juli 2012 festgesetzte Steuer unter Änderung des Erbschaftsteuerbescheids aus März 2008 zu 1/3 als Nachlassverbindlichkeit abzuziehen. Die Klägerin und ihre beiden Brüder trügen die Schuld allein. Das Finanzamt lehnte die Änderung jedoch ab, da mit Ablauf des Jahres 2011 Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage statt. Auf die Revision des Finanzamtes hob der BFH das Urteil auf und wies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.
Gründe:
Es fehlten Feststellungen zu der Frage, mit welcher Einkommensteuerfestsetzung zum Todeszeitpunkt zu rechnen war und ob und ggf. wann sich insoweit später die Verhältnisse geändert haben könnten.
Im Streitfall war die Steuer für den nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG steuerpflichtigen Erwerb der Steuerpflichtigen von Todes wegen gem. § 9 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG mit dem Tode des Erblassers entstanden. Für die Ermittlung der nach § 10 Abs. 1 Satz 1 ErbStG als steuerpflichtiger Erwerb geltenden Bereicherung des Erwerbers gilt als Bereicherung der Betrag, der sich ergibt, wenn von dem nach § 12 ErbStG zu ermittelnden Wert des gesamten Vermögensanfalls, soweit er der Besteuerung nach diesem Gesetz unterliegt, die nach den Absätzen 3 bis 9 abzugsfähigen Nachlassverbindlichkeiten mit ihrem nach § 12 ErbStG zu ermittelnden Wert abgezogen werden.
Zu den Nachlassverbindlichkeiten gehören diejenigen Steuerschulden, die im Zeitpunkt des Todes des Erblassers bereits rechtlich entstanden waren. Namentlich die Einkommensteuer entsteht grundsätzlich gem. § 38 AO i.V.m. § 36 Abs. 1 EStG mit Ablauf des Veranlagungszeitraums. Zu den abzugsfähigen Nachlassverbindlichkeiten i.S.d. § 10 Abs. 5 Nr. 1 ErbStG gehören aber nicht nur die Steuerschulden, die zum Zeitpunkt des Erbfalls bereits rechtlich entstanden waren, sondern auch die Steuerverbindlichkeiten, die der Erblasser als Steuerpflichtiger durch die Verwirklichung von Steuertatbeständen begründet hat und die mit dem Ablauf des Todesjahres entstehen. Die Festsetzung der Steuer ist nicht Voraussetzung ihrer Entstehung, sondern setzt nach § 85 Satz 1 AO die Entstehung voraus.
Steuerschulden können aber wie andere Nachlassverbindlichkeiten nur dann abgezogen werden, wenn sie im Todeszeitpunkt eine wirtschaftliche Belastung dargestellt haben. Daran fehlt es, wenn bei objektiver Würdigung der Verhältnisse in diesem Zeitpunkt nicht damit gerechnet werden konnte, dass der Steuergläubiger seine Forderung geltend machen werde. Fehlt die wirtschaftliche Belastung, findet der Abzug nicht statt.
Die Abziehbarkeit von Steuerschulden wie auch die wirtschaftliche Belastung durch die Steuerschuld hängt regelmäßig nicht davon ab, ob die Steuern beim Erbfall bereits festgesetzt waren oder nicht. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Finanzbehörden entstandene Steuern in der materiell-rechtlich zutreffenden Höhe festsetzen werden (§ 85 AO), so dass die als Nachlassverbindlichkeit abziehbare Steuerschuld für die Festsetzung der Erbschaftsteuer eigenständig zu ermitteln sei. Das folgt aus dem erbschaftsteuerrechtlichen Stichtagsprinzip, das die Wertermittlung einschließlich der Feststellung, welche Nachlassverbindlichkeiten gem. § 10 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Abs. 3 bis 9 ErbStG abziehbar sind, dem Stichtag zuweist.
Die Annahme, dass Steuerschulden in der materiell-rechtlich zutreffenden Höhe festgesetzt werden, gilt aber nicht ausnahmslos. In Steuerhinterziehungsfällen ist die wirtschaftliche Belastung im Todeszeitpunkt zu verneinen, wenn bei objektiver Würdigung der Verhältnisse in diesem Zeitpunkt angenommen werden konnte, dass der Steuergläubiger seine Forderung nicht geltend machen werde. Dies gilt etwa dann, wenn der Steuerpflichtige steuererhebliche Sachverhalte bewusst verheimlicht und mit Inanspruchnahme selbst nicht gerechnet hatte bzw. die Steuerbehörden in einem Auslandssachverhalt noch nicht einmal die theoretische Möglichkeit hatten, von den Steueransprüchen zu erfahren.
Diese Einschränkung gilt nicht nur für die Steuerhinterziehung. Es sind auch weitere Konstellationen denkbar, in denen objektiv nicht mit einer Geltendmachung der Steuerforderung (und damit einer Festsetzung) zu rechnen ist. Das betrifft namentlich Fälle, in denen nach dem Todeszeitpunkt eine Änderung von Verwaltungsauffassung oder Rechtsprechung zu Lasten des Steuerpflichtigen zu verzeichnen ist. In solchen Fällen werden später Steuerforderungen geltend gemacht, mit denen zum Todeszeitpunkt objektiv niemand rechnen konnte. Ändern sich die Verhältnisse nachträglich in der Weise, dass entgegen der Erwartung zum Todeszeitpunkt mit einer Geltendmachung der Steuerforderung zu rechnen ist, ist dies ein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. So wie diese nach dem Todeszeitpunkt erstmals eintretenden Voraussetzungen für die Berücksichtigung von Nachlassverbindlichkeiten rückwirkende Ereignisse sind, gilt dies ebenso für die wirtschaftliche Belastung, wenn sie erstmals nach dem Todeszeitpunkt entsteht.