Erlass von Nachzahlungszinsen
Kurzbesprechung
BFH v. 3.12.2019 - VIII R 25/17
AO § 233a
Die Unbilligkeit der Einziehung einer Steuer, an die § 227 AO die Möglichkeit eines Erlasses knüpft, kann sich aus sachlichen oder aus persönlichen Gründen ergeben. Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen, um die es im Streitfall allein ging, ist dann anzunehmen, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zwar nach dem gesetzlichen Tatbestand besteht, seine Geltendmachung aber mit dem Zweck des Gesetzes nicht oder nicht mehr zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft. Das setzt voraus, dass der Gesetzgeber eine andere Regelung getroffen hätte, wenn er die zu beurteilende Frage als regelungsbedürftig erkannt hätte. Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestands bewusst in Kauf genommen hat, können dagegen keinen Billigkeitserlass rechtfertigen. Die Billigkeitsprüfung darf die generelle Geltungsanordnung des den Steueranspruch begründenden Gesetzes nicht unterlaufen, sich andererseits auch nicht in Überlegungen zur richtigen Rechtsanwendung erschöpfen, da dann ein auf sachliche Billigkeitsgründe gestützter Erlass nach § 227 AO niemals möglich wäre.
Die Verzinsungsregelung in § 233a AO bezweckt einen typisierten Ausgleich für die Liquiditätsverschiebungen, die aus dem individuell sehr unterschiedlichen Verlauf des Besteuerungsverfahrens entstehen können. Es soll ein Ausgleich dafür geschaffen werden, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden. Insoweit beruht die Vorschrift auf der zulässig typisierenden Annahme, dass derjenige, dessen Steuer ganz oder zum Teil zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt wird, gegenüber demjenigen, dessen Steuer bereits frühzeitig festgesetzt wird, einen Liquiditäts‑ und damit auch einen potentiellen Zinsvorteil hat. Dieser Vorteil ist umso größer, je höher der nachzuzahlende Betrag ist und je später die Steuer festgesetzt wird. Durch die Verzinsung sollen der Liquiditätsvorteil des Steuerpflichtigen und seine damit verbundene erhöhte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, jedenfalls für die Zeit nach Ablauf von 15 Monaten nach Entstehung der Steuer, abgeschöpft werden. Gleichzeitig soll der vorhandene Zinsnachteil des Fiskus, der den nicht gezahlten Steuerbetrag nicht anderweitig nutzen kann, ausgeglichen werden. Diese typisierenden Grundannahmen des Gesetzgebers sind bereits bei der Auslegung des § 233a AO zu beachten; sie sind in gleicher Weise Maßstab für die Entscheidung der Frage, ob besondere Umstände vorliegen, die im Einzelfall die Erhebung der Nachzahlungszinsen als sachlich unbillig erscheinen lassen.
Aus welchem Grund es zu einem Unterschiedsbetrag gekommen ist und ob die möglichen Zins‑ und Liquiditätsvorteile tatsächlich bestanden und genutzt wurden, ist grundsätzlich unbeachtlich. Der durch die Verzinsung bezweckte Vorteilsausgleich behält grundsätzlich auch dann seinen Sinn, wenn staatliche Stellen für deren Entstehung und Höhe (mit-)verantwortlich sind. Eine verzögerte Bearbeitung des Steuerfalles durch die Finanzbehörde ist deshalb für sich genommen nicht geeignet, eine abweichende Zinsfestsetzung aus Billigkeitsgründen zu begründen.
Im Streitfall war das FG daher zu Recht davon ausgegangen, dass der Hinweis der Steuerpflichtigen auf eine Bearbeitungszeit von 13 Monaten seit dem Eingang der Mitteilung über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen im FA für sich betrachtet keinen Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen rechtfertigt. Denn dem Typisierungscharakter des § 233a AO widerspräche es, wenn die Finanzbehörden jeweils im Einzelfall damit befasst werden könnten, die angemessene Dauer eines Veranlagungsverfahrens - vom Eingang einer Steuererklärung oder Mitteilung bis zur Bekanntgabe des Steuerbescheids - von Fall zu Fall zu bestimmen und in diesem Zusammenhang tatsächlich und rechtlich schwierige Fragen eines Individual‑ oder Organisationsverschuldens zu prüfen. Die Vorschrift geht für den Beginn der Verzinsung auf Erstattungs‑ und Nachzahlungsbeträge typisierend von einer Bearbeitungsdauer von 15 Monaten aus. Auch eine lange Bearbeitungszeit von wie im Streitfall 13 Monaten für die Umsetzung einer Mitteilung über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen lässt die Erhebung von Nachzahlungszinsen daher noch nicht als sachlich unbillig erscheinen.
Etwas anderes folgte für den Streitfall nicht daraus, dass die Änderung des Einkommensteuerbescheids, welche die Zinspflicht nach § 233a AO auslöste, auf dem Erlass eines Grundlagenbescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO beruhte. Der Zinslauf ist auch dann nach Maßgabe von § 233a Abs. 2 AO zu berechnen, wenn der Unterschiedsbetrag auf der Anpassung eines Einkommensteuerbescheids an einen Grundlagenbescheid beruht. Nicht maßgebend ist, wann der Grundlagenbescheid ergeht. Der Beginn des Zinslaufs ist nach § 233a Abs. 2a AO nur hinausgeschoben, wenn die Änderung einer Steuerfestsetzung auf einem rückwirkenden Ereignis oder einem Verlustabzug beruht. Der Erlass eines Grundlagenbescheids ist aber kein rückwirkendes Ereignis, was aus der ausdrücklichen Nichtnennung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO in § 233a Abs. 2a AO deutlich wird. Auch ein Grundlagenbescheid, der viele Jahre nach Ende des Veranlagungszeitraums erlassen oder geändert wird, kann daher zu einer Zinspflicht unter Anwendung der Karenzzeit des § 233a Abs. 2 AO führen. Die Folgeanpassung des Einkommensteuerbescheids aufgrund des Erlasses oder der Änderung eines Grundlagenbescheids ist vor diesem Hintergrund in Ansehung der Nachzahlungszinsen nicht anders zu bewerten als die Änderung des Einkommensteuerbescheids innerhalb eines noch offenen Festsetzungsverfahrens oder aufgrund einer selbständigen Änderungsvorschrift.
Eine Billigkeitskorrektur dieses Ergebnisses war daher nicht geboten, sondern widerspräche dem gesetzgeberischen Konzept des § 233a AO. Außerdem ist die Erhebung von Nachzahlungszinsen unabhängig von der Höhe eines konkreten Zinsvorteils oder ‑nachteils nicht unbillig, wenn der Steuerpflichtige die erwartete Nachzahlung durch eine freiwillige Leistung hätte vermeiden können. Zwar ist für die Zinsberechnung nach § 233a Abs. 3 Satz 1 AO die festgesetzte Steuer maßgeblich, die nur um anzurechnende Steuerabzugsbeträge, die anzurechnende Körperschaftsteuer und die bis zum Beginn des Zinslaufs festgesetzten Vorauszahlungen zu vermindern ist, so dass freiwillige oder vorzeitige Leistungen des Steuerpflichtigen auf die noch festzusetzende Steuer grundsätzlich keine Auswirkung auf die Festsetzung von Nachzahlungszinsen haben. Die freiwillige Leistung der rechnerisch ermittelten, aber noch nicht festgesetzten Steuer hat aber zur Folge, dass vom Zeitpunkt der Zahlung - und anschließenden Annahme durch die Finanzbehörde - bis zur Festsetzung die Steuer überzahlt ist. Es besteht ein Guthaben zu Gunsten des Steuerpflichtigen. Sachgerecht ist es dann, wenn Zinsen für den überzahlten Betrag - soweit dieser der noch festzusetzenden Steuer entspricht - (sog. "fiktive Erstattungszinsen") berechnet und im Erlasswege dadurch berücksichtigt werden, dass in Höhe dieser "fiktiven Erstattungszinsen" die Nachzahlungszinsen reduziert werden.
Das FG hatte ebenfalls zutreffend entschieden, dass die Einwendungen der Steuerpflichtigen gegen die Höhe des Zinssatzes nach § 233a Abs. 1, § 238 Abs. 1 Satz 1 AO keinen Erlass der Nachzahlungszinsen aus Billigkeitsgründen rechtfertigen. Denn derartige Einwendungen betreffen die Rechtmäßigkeit der Zinsfestsetzung einschließlich der Verfassungsmäßigkeit der einfach-rechtlichen Grundlagen und sind vorrangig im Rechtsbehelfsverfahren gegen die Zinsfestsetzung und nicht im Erlassverfahren geltend zu machen.
Verlag Dr. Otto Schmidt
AO § 233a
Die Unbilligkeit der Einziehung einer Steuer, an die § 227 AO die Möglichkeit eines Erlasses knüpft, kann sich aus sachlichen oder aus persönlichen Gründen ergeben. Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen, um die es im Streitfall allein ging, ist dann anzunehmen, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zwar nach dem gesetzlichen Tatbestand besteht, seine Geltendmachung aber mit dem Zweck des Gesetzes nicht oder nicht mehr zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft. Das setzt voraus, dass der Gesetzgeber eine andere Regelung getroffen hätte, wenn er die zu beurteilende Frage als regelungsbedürftig erkannt hätte. Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestands bewusst in Kauf genommen hat, können dagegen keinen Billigkeitserlass rechtfertigen. Die Billigkeitsprüfung darf die generelle Geltungsanordnung des den Steueranspruch begründenden Gesetzes nicht unterlaufen, sich andererseits auch nicht in Überlegungen zur richtigen Rechtsanwendung erschöpfen, da dann ein auf sachliche Billigkeitsgründe gestützter Erlass nach § 227 AO niemals möglich wäre.
Die Verzinsungsregelung in § 233a AO bezweckt einen typisierten Ausgleich für die Liquiditätsverschiebungen, die aus dem individuell sehr unterschiedlichen Verlauf des Besteuerungsverfahrens entstehen können. Es soll ein Ausgleich dafür geschaffen werden, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden. Insoweit beruht die Vorschrift auf der zulässig typisierenden Annahme, dass derjenige, dessen Steuer ganz oder zum Teil zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt wird, gegenüber demjenigen, dessen Steuer bereits frühzeitig festgesetzt wird, einen Liquiditäts‑ und damit auch einen potentiellen Zinsvorteil hat. Dieser Vorteil ist umso größer, je höher der nachzuzahlende Betrag ist und je später die Steuer festgesetzt wird. Durch die Verzinsung sollen der Liquiditätsvorteil des Steuerpflichtigen und seine damit verbundene erhöhte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, jedenfalls für die Zeit nach Ablauf von 15 Monaten nach Entstehung der Steuer, abgeschöpft werden. Gleichzeitig soll der vorhandene Zinsnachteil des Fiskus, der den nicht gezahlten Steuerbetrag nicht anderweitig nutzen kann, ausgeglichen werden. Diese typisierenden Grundannahmen des Gesetzgebers sind bereits bei der Auslegung des § 233a AO zu beachten; sie sind in gleicher Weise Maßstab für die Entscheidung der Frage, ob besondere Umstände vorliegen, die im Einzelfall die Erhebung der Nachzahlungszinsen als sachlich unbillig erscheinen lassen.
Aus welchem Grund es zu einem Unterschiedsbetrag gekommen ist und ob die möglichen Zins‑ und Liquiditätsvorteile tatsächlich bestanden und genutzt wurden, ist grundsätzlich unbeachtlich. Der durch die Verzinsung bezweckte Vorteilsausgleich behält grundsätzlich auch dann seinen Sinn, wenn staatliche Stellen für deren Entstehung und Höhe (mit-)verantwortlich sind. Eine verzögerte Bearbeitung des Steuerfalles durch die Finanzbehörde ist deshalb für sich genommen nicht geeignet, eine abweichende Zinsfestsetzung aus Billigkeitsgründen zu begründen.
Im Streitfall war das FG daher zu Recht davon ausgegangen, dass der Hinweis der Steuerpflichtigen auf eine Bearbeitungszeit von 13 Monaten seit dem Eingang der Mitteilung über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen im FA für sich betrachtet keinen Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen rechtfertigt. Denn dem Typisierungscharakter des § 233a AO widerspräche es, wenn die Finanzbehörden jeweils im Einzelfall damit befasst werden könnten, die angemessene Dauer eines Veranlagungsverfahrens - vom Eingang einer Steuererklärung oder Mitteilung bis zur Bekanntgabe des Steuerbescheids - von Fall zu Fall zu bestimmen und in diesem Zusammenhang tatsächlich und rechtlich schwierige Fragen eines Individual‑ oder Organisationsverschuldens zu prüfen. Die Vorschrift geht für den Beginn der Verzinsung auf Erstattungs‑ und Nachzahlungsbeträge typisierend von einer Bearbeitungsdauer von 15 Monaten aus. Auch eine lange Bearbeitungszeit von wie im Streitfall 13 Monaten für die Umsetzung einer Mitteilung über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen lässt die Erhebung von Nachzahlungszinsen daher noch nicht als sachlich unbillig erscheinen.
Etwas anderes folgte für den Streitfall nicht daraus, dass die Änderung des Einkommensteuerbescheids, welche die Zinspflicht nach § 233a AO auslöste, auf dem Erlass eines Grundlagenbescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO beruhte. Der Zinslauf ist auch dann nach Maßgabe von § 233a Abs. 2 AO zu berechnen, wenn der Unterschiedsbetrag auf der Anpassung eines Einkommensteuerbescheids an einen Grundlagenbescheid beruht. Nicht maßgebend ist, wann der Grundlagenbescheid ergeht. Der Beginn des Zinslaufs ist nach § 233a Abs. 2a AO nur hinausgeschoben, wenn die Änderung einer Steuerfestsetzung auf einem rückwirkenden Ereignis oder einem Verlustabzug beruht. Der Erlass eines Grundlagenbescheids ist aber kein rückwirkendes Ereignis, was aus der ausdrücklichen Nichtnennung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO in § 233a Abs. 2a AO deutlich wird. Auch ein Grundlagenbescheid, der viele Jahre nach Ende des Veranlagungszeitraums erlassen oder geändert wird, kann daher zu einer Zinspflicht unter Anwendung der Karenzzeit des § 233a Abs. 2 AO führen. Die Folgeanpassung des Einkommensteuerbescheids aufgrund des Erlasses oder der Änderung eines Grundlagenbescheids ist vor diesem Hintergrund in Ansehung der Nachzahlungszinsen nicht anders zu bewerten als die Änderung des Einkommensteuerbescheids innerhalb eines noch offenen Festsetzungsverfahrens oder aufgrund einer selbständigen Änderungsvorschrift.
Eine Billigkeitskorrektur dieses Ergebnisses war daher nicht geboten, sondern widerspräche dem gesetzgeberischen Konzept des § 233a AO. Außerdem ist die Erhebung von Nachzahlungszinsen unabhängig von der Höhe eines konkreten Zinsvorteils oder ‑nachteils nicht unbillig, wenn der Steuerpflichtige die erwartete Nachzahlung durch eine freiwillige Leistung hätte vermeiden können. Zwar ist für die Zinsberechnung nach § 233a Abs. 3 Satz 1 AO die festgesetzte Steuer maßgeblich, die nur um anzurechnende Steuerabzugsbeträge, die anzurechnende Körperschaftsteuer und die bis zum Beginn des Zinslaufs festgesetzten Vorauszahlungen zu vermindern ist, so dass freiwillige oder vorzeitige Leistungen des Steuerpflichtigen auf die noch festzusetzende Steuer grundsätzlich keine Auswirkung auf die Festsetzung von Nachzahlungszinsen haben. Die freiwillige Leistung der rechnerisch ermittelten, aber noch nicht festgesetzten Steuer hat aber zur Folge, dass vom Zeitpunkt der Zahlung - und anschließenden Annahme durch die Finanzbehörde - bis zur Festsetzung die Steuer überzahlt ist. Es besteht ein Guthaben zu Gunsten des Steuerpflichtigen. Sachgerecht ist es dann, wenn Zinsen für den überzahlten Betrag - soweit dieser der noch festzusetzenden Steuer entspricht - (sog. "fiktive Erstattungszinsen") berechnet und im Erlasswege dadurch berücksichtigt werden, dass in Höhe dieser "fiktiven Erstattungszinsen" die Nachzahlungszinsen reduziert werden.
Das FG hatte ebenfalls zutreffend entschieden, dass die Einwendungen der Steuerpflichtigen gegen die Höhe des Zinssatzes nach § 233a Abs. 1, § 238 Abs. 1 Satz 1 AO keinen Erlass der Nachzahlungszinsen aus Billigkeitsgründen rechtfertigen. Denn derartige Einwendungen betreffen die Rechtmäßigkeit der Zinsfestsetzung einschließlich der Verfassungsmäßigkeit der einfach-rechtlichen Grundlagen und sind vorrangig im Rechtsbehelfsverfahren gegen die Zinsfestsetzung und nicht im Erlassverfahren geltend zu machen.