Inanspruchnahme des Trägers eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs für nicht einbehaltene und abgeführte Kapitalertragsteuer
Kurzbesprechung
BFH v. 11.12.2024 - VIII R 24/23
EStG § 20 Abs 1 Nr 10 Buchst b, EStG § 43 Abs 1 S 1 Nr 7c, EStG § 44 Abs 5 S 1, EStG § 44 Abs 5 S 2, EStG § 44 Abs 6 S 5, EStG § 44 Abs 6 S 1
AO § 155, AO § 167 Abs 1 S 1, AO § 171 Abs 3a, AO § 171 Abs 15, AO § 14
KStG § 5 Abs 1 Nr. 5
Der Steuerpflichtige ist ein gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 5 KStG von der Körperschaftsteuer befreiter Berufsverband. Er unterhält neben dem steuerbefreiten Bereich einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb, aus dem er in den Jahren 2007 und 2008 (Streitjahre) Gewinne erzielte.
Der Steuerpflichtige reichte nach Aufforderung durch das FA am 23.4.2010 Kapitalertragsteueranmeldungen für die Streitjahre ein, in denen er Kapitalerträge gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b EStG in Höhe von jeweils 0 € angab.
Am 8.3.2012 erließ das FA einen Haftungsbescheid, mit dem es den Steuerpflichtigen gemäß § 191 Abs. 1 wegen nicht abgeführter Kapitalertragsteuer in Höhe von 3.862 € (2007) beziehungsweise 888 € (2008) nebst Solidaritätszuschlag in Anspruch nahm. Die in den Streitjahren erzielten Gewinne des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs seien gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b i.V.m. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7c und § 43a Abs. 1 Nr. 6 EStG einer 10%igen Kapitalertragsteuer zu unterwerfen, da die Gewinne nicht einer gesonderten, betrieblich notwendigen Gewinnrücklage zugeführt worden seien. Der Steuerpflichtige hafte als Entrichtungsschuldner, da er seiner Verpflichtung zur Einbehaltung, Anmeldung und Abführung der Kapitalertragsteuer nicht nachgekommen sei.
Nachfolgend wurde der Haftungsbescheid im gerichtlichen Verfahren aufgehoben und ein auf § 167 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 44 Abs. 5 Satz 2 EStG gestützter und als "Nachforderungsbescheid" über Kapitalertragsteuer 2007 und 2008 bezeichneter Bescheid gegen gegenüber dem Steuerpflichtigen als Entrichtungsschuldner erlassen. Das nachfolgend durchgeführte Klageverfahren hatte Erfolg, das FG entschied, der Bescheid habe nicht mehr ergehen können, da hinsichtlich der Kapitalertragsteuer der Streitjahre Festsetzungsverjährung eingetreten sei.
So sieht das auch der BFH, der die vom FG eingelegte Revision als unbegründet zurückwies.
Die Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuer der Streitjahre begann gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO mit Ablauf des Jahres 2010, in dem der Steuerpflichtige die Kapitalertragsteueranmeldungen für die Streitjahre abgegeben hatte. Die Festsetzungsfrist beträgt vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO). Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung (mit entsprechender Fristverlängerung auf 10 Jahre) lagen im Streitfall nicht vor.
Der Ablauf der Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuer der Streitjahre war nicht nach § 171 Abs. 15 AO gehemmt. Das gegen den Haftungsbescheid geführte Rechtsbehelfs- und Klageverfahren hat den Ablauf der Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen nicht gehemmt.
Voraussetzung für eine Hemmung der Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerpflichtigen als Schuldner der Kapitalertragsteuer wäre eine Hemmung der Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen, hier dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb als fiktivem Entrichtungsschuldner. Ob die Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen gehemmt war, ist bei der Anwendung von § 171 Abs. 15 AO inzident nach Maßgabe der Tatbestände des § 171 AO zu beurteilen.
Wird ein Steuerbescheid mit dem Einspruch oder der Klage angefochten, so läuft gemäß § 171 Abs 3a AO die Festsetzungsfrist nicht ab, bevor über den Rechtsbehelf unanfechtbar entschieden ist. Die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3a AO ist sachlich auf den im angefochtenen Bescheid festgesetzten Anspruch und persönlich auf die Person des Anfechtenden beschränkt.
Das Einspruchs- und Klageverfahren gegen den Haftungsbescheid hatte danach die Festsetzungsverjährung gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen nicht gehemmt. Denn der Haftungsbescheid ging ins Leere, da es im Streitfall an einem Haftungsanspruch fehlt.
Das gegen den Haftungsbescheid geführte Einspruchs- und Klageverfahren hätte danach allenfalls den Ablauf der Festsetzungsfrist für den in ihm festgesetzten (vermeintlichen) Haftungsanspruch hemmen können. Aus der Formulierung "gesamter Steueranspruch" in § 171 Abs. 3a Satz 2 AO ergibt sich nichts anderes. Hierdurch soll die Möglichkeit der Verböserung im außergerichtlichen und gerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren auf den gesamten Steueranspruch erstreckt und eine Teilverjährung ausgeschlossen werden. Gesamter "Steueranspruch" war im Streitfall der vom FA im Haftungsbescheid festgesetzte vermeintliche Haftungsanspruch. Da ein solcher Anspruch jedoch von Anfang an nicht bestand und deshalb auch nicht verjähren konnte, hatte das Einspruchs- und Klageverfahren keine Hemmungswirkung entfaltet. Nimmt das FA den Entrichtungsschuldner ausdrücklich durch Haftungsbescheid in Anspruch, macht es nur den Haftungsanspruch geltend und nicht zugleich auch den Entrichtungsanspruch.
Der Ablauf der Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuer der Streitjahre war auch nicht nach § 171 Abs. 3a AO gehemmt. In Betracht kommt hier wiederum nur das gegen den Haftungsbescheid geführte Einspruchs- und Klageverfahren. Dieses hat jedoch auch nicht den Ablauf der Festsetzungsfrist für den Anspruch auf Kapitalertragsteuer, soweit er sich gegen den Gläubiger der Kapitalerträge und Schuldner der Kapitalertragsteuer (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1 EStG) richtet, gehemmt.
Die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 3a AO greift auch deshalb nicht durch, weil unter Berücksichtigung der Fiktion des § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG auch bei der Anwendung von § 171 Abs. 3a AO davon auszugehen ist, dass der Gläubiger der Kapitalerträge und Schuldner der Kapitalertragsteuer (die Trägerkörperschaft) und der fiktive Entrichtungsschuldner (der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb) personenverschieden sind, und weil § 171 Abs. 3a AO eine personenübergreifende Hemmungswirkung nicht vorsieht.
Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass auch der Haftungsbescheid gegen den Steuerpflichtigen in seiner Eigenschaft als Träger des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs gerichtet war und dass der Kläger in dieser Eigenschaft das Einspruchs- und Klageverfahren gegen den Haftungsbescheid im eigenen Namen geführt hatte. Dies ist allein dem Umstand geschuldet, dass die Trägerkörperschaft bezüglich der für den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb fiktiv angeordneten Entrichtungsschuld lediglich deswegen als Steuersubjekt anzusehen ist, weil dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb eine rechtliche Organisationsform fehlt, die nach den Vorschriften der Abgabenordnung handlungsfähig ist. Die Fiktion in § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG, die auch im steuerlichen Verfahrensrecht zu beachten ist, überschreibt und verdrängt die in der zu beurteilenden Situation ausnahmsweise gegebene Personenidentität und verlangt vom Rechtsanwender, fiktiv von einer Personenverschiedenheit auszugehen.
Im Streitfall war daher die Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuer der Streitjahre mit Ablauf des 31.12.2014 abgelaufen.
Verlag Dr. Otto Schmidt
EStG § 20 Abs 1 Nr 10 Buchst b, EStG § 43 Abs 1 S 1 Nr 7c, EStG § 44 Abs 5 S 1, EStG § 44 Abs 5 S 2, EStG § 44 Abs 6 S 5, EStG § 44 Abs 6 S 1
AO § 155, AO § 167 Abs 1 S 1, AO § 171 Abs 3a, AO § 171 Abs 15, AO § 14
KStG § 5 Abs 1 Nr. 5
Der Steuerpflichtige ist ein gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 5 KStG von der Körperschaftsteuer befreiter Berufsverband. Er unterhält neben dem steuerbefreiten Bereich einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb, aus dem er in den Jahren 2007 und 2008 (Streitjahre) Gewinne erzielte.
Der Steuerpflichtige reichte nach Aufforderung durch das FA am 23.4.2010 Kapitalertragsteueranmeldungen für die Streitjahre ein, in denen er Kapitalerträge gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b EStG in Höhe von jeweils 0 € angab.
Am 8.3.2012 erließ das FA einen Haftungsbescheid, mit dem es den Steuerpflichtigen gemäß § 191 Abs. 1 wegen nicht abgeführter Kapitalertragsteuer in Höhe von 3.862 € (2007) beziehungsweise 888 € (2008) nebst Solidaritätszuschlag in Anspruch nahm. Die in den Streitjahren erzielten Gewinne des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs seien gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b i.V.m. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7c und § 43a Abs. 1 Nr. 6 EStG einer 10%igen Kapitalertragsteuer zu unterwerfen, da die Gewinne nicht einer gesonderten, betrieblich notwendigen Gewinnrücklage zugeführt worden seien. Der Steuerpflichtige hafte als Entrichtungsschuldner, da er seiner Verpflichtung zur Einbehaltung, Anmeldung und Abführung der Kapitalertragsteuer nicht nachgekommen sei.
Nachfolgend wurde der Haftungsbescheid im gerichtlichen Verfahren aufgehoben und ein auf § 167 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 44 Abs. 5 Satz 2 EStG gestützter und als "Nachforderungsbescheid" über Kapitalertragsteuer 2007 und 2008 bezeichneter Bescheid gegen gegenüber dem Steuerpflichtigen als Entrichtungsschuldner erlassen. Das nachfolgend durchgeführte Klageverfahren hatte Erfolg, das FG entschied, der Bescheid habe nicht mehr ergehen können, da hinsichtlich der Kapitalertragsteuer der Streitjahre Festsetzungsverjährung eingetreten sei.
So sieht das auch der BFH, der die vom FG eingelegte Revision als unbegründet zurückwies.
Die Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuer der Streitjahre begann gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO mit Ablauf des Jahres 2010, in dem der Steuerpflichtige die Kapitalertragsteueranmeldungen für die Streitjahre abgegeben hatte. Die Festsetzungsfrist beträgt vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO). Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung (mit entsprechender Fristverlängerung auf 10 Jahre) lagen im Streitfall nicht vor.
Der Ablauf der Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuer der Streitjahre war nicht nach § 171 Abs. 15 AO gehemmt. Das gegen den Haftungsbescheid geführte Rechtsbehelfs- und Klageverfahren hat den Ablauf der Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen nicht gehemmt.
Voraussetzung für eine Hemmung der Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerpflichtigen als Schuldner der Kapitalertragsteuer wäre eine Hemmung der Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen, hier dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb als fiktivem Entrichtungsschuldner. Ob die Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen gehemmt war, ist bei der Anwendung von § 171 Abs. 15 AO inzident nach Maßgabe der Tatbestände des § 171 AO zu beurteilen.
Wird ein Steuerbescheid mit dem Einspruch oder der Klage angefochten, so läuft gemäß § 171 Abs 3a AO die Festsetzungsfrist nicht ab, bevor über den Rechtsbehelf unanfechtbar entschieden ist. Die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3a AO ist sachlich auf den im angefochtenen Bescheid festgesetzten Anspruch und persönlich auf die Person des Anfechtenden beschränkt.
Das Einspruchs- und Klageverfahren gegen den Haftungsbescheid hatte danach die Festsetzungsverjährung gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen nicht gehemmt. Denn der Haftungsbescheid ging ins Leere, da es im Streitfall an einem Haftungsanspruch fehlt.
Das gegen den Haftungsbescheid geführte Einspruchs- und Klageverfahren hätte danach allenfalls den Ablauf der Festsetzungsfrist für den in ihm festgesetzten (vermeintlichen) Haftungsanspruch hemmen können. Aus der Formulierung "gesamter Steueranspruch" in § 171 Abs. 3a Satz 2 AO ergibt sich nichts anderes. Hierdurch soll die Möglichkeit der Verböserung im außergerichtlichen und gerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren auf den gesamten Steueranspruch erstreckt und eine Teilverjährung ausgeschlossen werden. Gesamter "Steueranspruch" war im Streitfall der vom FA im Haftungsbescheid festgesetzte vermeintliche Haftungsanspruch. Da ein solcher Anspruch jedoch von Anfang an nicht bestand und deshalb auch nicht verjähren konnte, hatte das Einspruchs- und Klageverfahren keine Hemmungswirkung entfaltet. Nimmt das FA den Entrichtungsschuldner ausdrücklich durch Haftungsbescheid in Anspruch, macht es nur den Haftungsanspruch geltend und nicht zugleich auch den Entrichtungsanspruch.
Der Ablauf der Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuer der Streitjahre war auch nicht nach § 171 Abs. 3a AO gehemmt. In Betracht kommt hier wiederum nur das gegen den Haftungsbescheid geführte Einspruchs- und Klageverfahren. Dieses hat jedoch auch nicht den Ablauf der Festsetzungsfrist für den Anspruch auf Kapitalertragsteuer, soweit er sich gegen den Gläubiger der Kapitalerträge und Schuldner der Kapitalertragsteuer (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1 EStG) richtet, gehemmt.
Die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 3a AO greift auch deshalb nicht durch, weil unter Berücksichtigung der Fiktion des § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG auch bei der Anwendung von § 171 Abs. 3a AO davon auszugehen ist, dass der Gläubiger der Kapitalerträge und Schuldner der Kapitalertragsteuer (die Trägerkörperschaft) und der fiktive Entrichtungsschuldner (der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb) personenverschieden sind, und weil § 171 Abs. 3a AO eine personenübergreifende Hemmungswirkung nicht vorsieht.
Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass auch der Haftungsbescheid gegen den Steuerpflichtigen in seiner Eigenschaft als Träger des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs gerichtet war und dass der Kläger in dieser Eigenschaft das Einspruchs- und Klageverfahren gegen den Haftungsbescheid im eigenen Namen geführt hatte. Dies ist allein dem Umstand geschuldet, dass die Trägerkörperschaft bezüglich der für den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb fiktiv angeordneten Entrichtungsschuld lediglich deswegen als Steuersubjekt anzusehen ist, weil dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb eine rechtliche Organisationsform fehlt, die nach den Vorschriften der Abgabenordnung handlungsfähig ist. Die Fiktion in § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG, die auch im steuerlichen Verfahrensrecht zu beachten ist, überschreibt und verdrängt die in der zu beurteilenden Situation ausnahmsweise gegebene Personenidentität und verlangt vom Rechtsanwender, fiktiv von einer Personenverschiedenheit auszugehen.
Im Streitfall war daher die Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuer der Streitjahre mit Ablauf des 31.12.2014 abgelaufen.