29.08.2018

Insolvenzrechtliches Aufrechnungsverbot bei nachträglichem Verzicht auf Steuerfreiheit nach § 9 UStG

Da das Recht auf Vorsteuerabzug materiell-rechtlich bereits entsteht, wenn die betreffenden Gegenstände geliefert oder die Dienstleistung erbracht wird, kommt es für die insolvenzrechtliche Begründung des Erstattungsanspruchs auf den Besitz der Rechnung nicht an. Auf den Zeitpunkt der dem Vorsteuerabzug zugrunde liegenden Lieferung von Gegenständen oder Erbringung von Dienstleistungen ist auch dann abzustellen, wenn der Anspruch auf Vorsteuerabzug auf einem Verzicht auf Steuerfreiheit nach § 9 UStG beruht.

BFH 12.6.2018, VII R 19/16
Der Sachverhalt:

Über das Vermögen der A-GmbH war im Juni 2009 das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Der Kläger wurde zum Insolvenzverwalter bestellt. Die GmbH war auf dem Gebiet des Fahrzeugbaus tätig gewesen. Die notwendigen Betriebsanlagen (Grundstücke, Gebäude, Maschinen und Einrichtungsgegenstände) waren ihr im Rahmen einer Betriebsaufspaltung von der KG gegen Zahlung eines prozentualen Anteils des Rohertrags überlassen worden. Umsatzsteuerlich war man vom Vorliegen einer Organschaft i.S.d. § 2 Abs. 2 UStG ausgegangen.

Im März 2009 hatte die KG gegenüber dem Finanzamt geltend gemacht, dass entgegen der bisherigen Annahme die Voraussetzungen für eine umsatzsteuerliche Organschaft nicht vorgelegen hätten. Die Behörde war dieser Auffassung letztlich gefolgt. Im Juli 2011 stellte die KG dem Kläger eine Rechnung aus, mit der sie erstmals über die von ihr gegenüber der GmbH erbrachten Pachtleistungen für den Zeitraum Januar 2006 bis Februar 2009 abrechnete. Die Rechnung wies Umsatzsteuer aus und wurde dem Kläger im August 2011 übergeben.

Die daraufhin vom Finanzamt im Dezember 2012 geänderte Festsetzung der Umsatzsteuer-Vorauszahlung für August 2011 wies zugunsten des Klägers einen Überschuss aus. Dieses Guthaben verrechnete das Finanzamt am selben Tag mit offenen Steuerforderungen gegen die GmbH aus Umsatzsteuer für die Jahre 2006 bis 2008. Ein Vergütungsbetrag ergab sich deswegen nicht mehr. Der Kläger beantragte dennoch im Dezember 2014 unter Berufung auf § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO die Auszahlung des Guthabens, was das Finanzamt ablehnte. Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage statt. Auf die Revision des Finanzamtes hob der BFH das Urteil auf und wies die Klage ab.

Gründe:

Das FG ist rechtsfehlerhaft zu dem Ergebnis gelangt, § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO stehe der Aufrechnung entgegen.

Nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist die Aufrechnung unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden ist. Ob ein Insolvenzgläubiger bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden ist, bestimmt sich danach, ob der Tatbestand, der den betreffenden Anspruch begründet, nach den steuerrechtlichen Vorschriften bereits vor oder erst nach Insolvenzeröffnung vollständig verwirklicht und damit abgeschlossen ist. Entscheidend ist, ob sämtliche materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen für die Entstehung eines Erstattungsanspruchs im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits erfüllt waren.

Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht materiell-rechtlich, wenn die betreffende Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird. Auf den Besitz der Rechnung kommt es für die insolvenzrechtliche Begründung des Erstattungsanspruchs nicht an. Denn das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht materiell-rechtlich bereits dann, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Dies ist der Zeitpunkt, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird. Der Rechnungsbesitz ist demzufolge eine nur formelle, nicht aber eine materielle Bedingung für die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug. Der Umstand, dass der Besitz der Rechnung eine materielle Anspruchsvoraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug darstellt, ist daher für die Frage nach dem Zeitpunkt der materiell-rechtlichen Entstehung dieses Anspruchs unerheblich.

Auf den Zeitpunkt der dem Vorsteuerabzug zugrunde liegenden Lieferung von Gegenständen oder Erbringung von Dienstleistungen ist auch dann abzustellen, wenn der Anspruch auf Vorsteuerabzug auf einem Verzicht auf die Steuerfreiheit nach § 9 UStG beruht; denn der Verzicht wirkt hinsichtlich der Entstehung des Anspruchs auf den Veranlagungszeitraum zurück, in dem der Umsatz ausgeführt wurde. In diesem Punkt unterscheidet sich der Verzicht auf Steuerfreiheit nach § 9 UStG von einer Berichtigung des Steuerbetrags nach § 14c Abs. 1 S. 2 oder Abs. 2 S. 3 UStG; denn die Berichtigung wirkt nicht auf den Zeitpunkt der Ausstellung der Rechnung zurück.

Im vorliegenden Fall hat der Kläger erst im August 2011 eine Rechnung mit Umsatzsteuerausweis über die von der KG bis einschließlich Februar 2009 erbrachten Pachtleistungen erhalten. Mit dieser Rechnung hatte die KG die Pachtleistungen als steuerpflichtige Umsätze behandelt und demzufolge auf die Steuerfreiheit der Pachtleistungen verzichtet. Der Verzicht auf die Steuerfreiheit bewirkte rückwirkend, dass der Umsatz steuerpflichtig ist. Auch wenn der Kläger seinen Anspruch erst mit dem Erhalt der Rechnung geltend machen konnte, änderte dies nichts an dem Umstand, dass das Recht auf den Vorsteuerabzug materiell-rechtlich bereits zum Zeitpunkt der jeweiligen Pachtleistung entstanden war, im Streitfall also i.S.d. § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, so dass die vom Finanzamt vorgenommene Aufrechnung des Vorsteuervergütungsanspruchs mit andere Steuerschulden rechtmäßig war.

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