01.07.2019

Ist die rückwirkende Erfassung von Gewinnen aus der Veräußerung von vor dem 1.1.2005 abgeschlossenen Lebensversicherungen verfassungsgemäß?

Im Fall der Erweiterung der Steuerpflicht von Zinsen auf Kapitallebensversicherungen, die vor dem 1.1.2005 abgeschlossen wurden, auf Veräußerungstatbestände, die vor Ablauf von zwölf Jahren erfolgen, liegt eine unechte Rückwirkung vor. Da allerdings zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 52a Abs. 10 Satz 5, 2. HS EStG in der für das Streitjahr 2012 geltenden Fassung (nunmehr § 52 Abs. 28 Satz 14, 2. HS EStG) - soweit ersichtlich - noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt, wurde die Revision zugelassen.

FG Münster v. 22.5.2019 - 7 K 1014/16 E
Der Sachverhalt:
Der Kläger hatte im Juli 2002 eine Rentenversicherung mit Kapitalwahlrecht (LV 1) abgeschlossen. Hierfür leistete er am 9.8.2002 eine Einzahlung i.H.v. 443.000 €. Ende 2011 veräußerte er die Ansprüche aus der Versicherung nach London. Den Kaufpreis i.H.v. 595.300 € überwies die Käuferin im April 2012 an den Kläger.

Nachdem die Versicherungsgesellschaft dem Finanzamt eine Mitteilung über die Veräußerung gemacht hatte, erfasste die Behörde zunächst einen Veräußerungsgewinn im Rahmen der Einkommensteuerfestsetzung des Klägers für 2011. Dem hiergegen eingelegten Einspruch, mit dem der Kläger den Zufluss erst im Folgejahr geltend machte, wurde abgeholfen. Auf den 31.12.2011 stellte das Finanzamt einen verbleibenden Verlustvortrag aus privaten Veräußerungsgeschäften in der bis zum 31.12.2008 anzuwendenden Fassung für den Kläger i.H.v. 57.681 € fest. Es setzte im Einkommensteuerbescheid für 2012 einen Veräußerungsgewinn i.H.v. 152.300 € als Einkünfte aus Kapitalvermögen gem. § 20 Abs. 2 Nr. 6 EStG an.

Im Rahmen der Einspruchsentscheidung änderte das Finanzamt die Steuerfestsetzung dahingehend, dass der Veräußerungsgewinn unter Berücksichtigung der zusätzlichen Anschaffungskosten nur noch i.H.v. 108.053,15 € angesetzt wurde. Dieser sei allerdings im Zuflussjahr des Veräußerungspreises steuerpflichtig. Zwar handele es sich grundsätzlich um einen steuerfreien Altvertrag. Ausnahmsweise bestehe jedoch eine Steuerpflicht, weil eine Veräußerung vor Ablauf der Mindesthaltefrist von zwölf Jahren erfolgt sei.

Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage teilweise statt. Allerdings wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache die Revision zum BFH zugelassen.

Die Gründe:
Der Einkommensteuerbescheid für 2012 ist rechtswidrig, soweit das Finanzamt keine Verrechnung des Gewinns aus der Veräußerung der Rentenversicherung mit den auf den 31.12.2011 festgestellten Verlustvorträgen aus vor dem 1.1.2009 entstandenen privaten Veräußerungsgeschäften vorgenommen hat. Im Übrigen ist der Bescheid rechtmäßig.

Der Kläger hatte seine Versicherungsansprüche im Jahr 2011 und damit nach dem maßgeblichen Stichtag (31.12.2008) veräußert. Hierfür ist ihm im Streitjahr 2012 ein Veräußerungserlös zugeflossen (§ 11 Abs. 1 EStG). Dieser Gewinn unterliegt in vollem Umfang der Besteuerung. Eine Kürzung um den Anteil, der bis zum 31.12.2008 entstanden ist, kommt nicht in Betracht. Eine solche Kürzung ergibt sich weder aus dem Gesetz noch ist sie verfassungsrechtlich geboten. Die Regelung in § 52a Abs. 10 Satz 5 EStG in der für das Streitjahr 2012 gültigen Fassung (nunmehr § 52 Abs. 28 Satz 14 EStG), mit der die Steuerpflicht von Veräußerungserlösen aus vor Ablauf von zwölf Jahren veräußerten Lebensversicherungen angeordnet wird, wenn die Veräußerung nach dem 31.12.2008 stattfindet, verstößt nach Ansicht des Senats nicht gegen Verfassungsrecht, insbesondere nicht gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes, GG) herzuleitende Rückwirkungsverbot.

Im Fall der Erweiterung der Steuerpflicht von Zinsen auf Kapitallebensversicherungen, die vor dem 1.1.2005 abgeschlossen wurden, auf Veräußerungstatbestände, die vor Ablauf von zwölf Jahren erfolgen, liegt keine echte Rückwirkung vor, da die von der Gesetzesänderung erfassten Veräußerungstatbestände erst für zukünftige Veranlagungszeiträume (ab 2009) einer Besteuerung unterworfen werden. Es liegt allerdings eine unechte Rückwirkung vor. Dies folgt daraus, dass die betroffenen Versicherungsverträge bereits abgeschlossen waren und nach bisheriger Rechtslage Erträge aus der Veräußerung nicht besteuert wurden, sondern lediglich der Zufluss von Zinsen.

Diese unechte Rückwirkung ist jedoch zulässig, weil der Gesetzgeber insoweit nicht in konkret verfestigte Vermögenspositionen eingegriffen hat. Im Unterschied zur Verlängerung der Spekulationsfrist für private Grundstücke bzw. der Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze für Kapitalbeteiligungen konnte der Lebensversicherungsnehmer vor Ablauf der Mindesthaltefrist von zwölf Jahren nicht darauf vertrauen, Erträge aus der Versicherung steuerfrei vereinnahmen zu können. Die Möglichkeit, dieser Steuerpflicht zu entgehen, bestand für ihn nach alter Rechtslage allein darin, seine Ansprüche aus der Lebensversicherung entgeltlich an einen Dritten abzutreten. Anders als der Erwerber eines Grundstücks hätte ein solcher Erwerber vor Ablauf der Mindesthaltefrist die "Belastung" der Erträge aus der Versicherung mitübernommen und daher erst nach Ablauf der zwölf Jahre die Versicherungsansprüche steuerfrei realisieren können.

Hinzu kommt im Streitfall, dass der Gesetzgeber den Betroffenen - anders als in den vom BVerfG entschiedenen Fällen zur Verlängerung der Spekulationsfrist in § 23 EStG und zur Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze bei § 17 EStG - durch eine ausreichend lange Übergangsfrist die Möglichkeit eingeräumt hat, entsprechende Maßnahmen zu treffen, um der Besteuerung zu entgehen. Da allerdings zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 52a Abs. 10 Satz 5, 2. HS EStG in der für das Streitjahr 2012 geltenden Fassung (nunmehr § 52 Abs. 28 Satz 14, 2. HS EStG) - soweit ersichtlich - noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt, wurde die Revision zugelassen.

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