27.06.2024

Keine Bindung an eine den Verlust des Freizügigkeitsrechts feststellende Entscheidung der Ausländerbehörde im Kindergeldrecht

1. Gemäß § 62 Abs. 1a Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) besteht bei Kindergeldfestsetzungen für nach dem 31.07.2019 beginnende Zeiträume eine uneingeschränkte Prüfungskompetenz der Familienkasse für die in § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG vorausgesetzte Freizügigkeitsberechtigung des Anspruchstellers.
2. Eine eigenständige Prüfungspflicht der Familienkasse besteht auch dann, wenn die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts gemäß § 5 Abs. 4 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern festgestellt hat. Der Bescheid der Ausländerbehörde entfaltet bei der Prüfung des Kindergeldanspruchs keine (echte) Tatbestandswirkung.
3. Eine teleologische Reduktion des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG kommt nicht in Betracht.

Kurzbesprechung
BFH v. 25.4.2024 - III R 36/23

EStG § 62 Abs 1 S 1 Nr. 1, § 62 Abs 1a S 3, § 62 Abs 1a S 4, § 63 Abs 1 Nr. 1
FreizügG/EU § 2 Abs 2 Nr. 1, § 5 Abs 4
AZRG § 18f


Nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG (i.d.F. vom 11.07.2019, eingeführt durch das Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch vom 11.07.2019, BGBl I 2019, 1066) ist der Kindergeldanspruch eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der seit mehr als drei Monaten im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, unter anderem dann ausgeschlossen, wenn dieser die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU nicht erfüllt. Gemäß § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG führt die Familienkasse die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld gemäß Satz 3 nicht gegeben sind, in eigener Zuständigkeit durch. Dementsprechend ist auch das FG berechtigt, das Kriterium der Freizügigkeit selbst zu überprüfen.

Im Streitfall war der persönliche Anwendungsbereich des § 62 Abs. 1a EStG eröffnet, da die Antragstellerin Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats der EU ist und keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.

Die Vorschrift war im Streitfall auch zeitlich anwendbar. Denn § 62 Abs. 1a EStG in dieser am 18.07.2019 geltenden Fassung ist für Kindergeldfestsetzungen anzuwenden, die Zeiträume betreffen, die nach dem 31.07.2019 beginnen (§ 52 Abs. 49a Satz 1 EStG).

Die Antragstellerin wohnt bereits seit April 2019 und damit im Streitzeitraum seit mehr als zwei Jahren in Deutschland. Der streitige Kindergeldanspruch fällt daher nicht in den Zeitraum von drei Monaten ab Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts, auf den sich die gegen das Unionsrecht verstoßende Regelung des § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG bezieht.

Die Antragstellerin erfüllte im Streitzeitraum auch die Voraussetzungen des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU. Nach dieser Vorschrift sind Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen, freizügigkeitsberechtigt. Der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne des europäischen Gemeinschaftsrechts ist weit auszulegen.

Der EuGH betont in ständiger Rechtsprechung, dass als Arbeitnehmer jeder anzusehen ist, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei nur Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Zudem führt der Umstand, dass das mit der ausgeübten Tätigkeit erzielte Entgelt unter dem von dem jeweiligen Mitgliedstaat definierten Existenzminimum liegt, als solcher nicht dazu, dass diese Tätigkeit vom Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgeschlossen ist. Auch die Dauer der Tätigkeit ist nicht von entscheidender Relevanz. Die Arbeitnehmereigenschaft ist aufgrund einer Gesamtbetrachtung aller Umstände, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeiten und des fraglichen Arbeitsverhältnisses betreffen, festzustellen.

Vor diesem Hintergrund war die Würdigung des FG unter Berücksichtigung des Arbeitsvertrages und der Lohnabrechnungen, die von der Antragstellerin ab 11.2021 ausgeübte Tätigkeit als Arbeitnehmerin im Sinne von § 2 FreizügG/EU zu qualifizieren, nicht zu beanstanden.

Dem Kindergeldanspruch stand auch nicht der Bescheid der Ausländerbehörde über den Verlust des Freizügigkeitsrechts der Antragstellerin entgegen. Denn gemäß § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG führt die Familienkasse die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld gemäß Satz 3 nicht gegeben sind, in eigener Zuständigkeit durch. § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG ist nicht dahingehend auszulegen, dass eine Prüfungskompetenz der Familienkasse nicht mehr besteht, wenn die Ausländerbehörde den Verlust der Freizügigkeit festgestellt hat. § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG kann auch nicht im Wege einer teleologischen Reduktion dahin eingeschränkt werden, dass eine eigenständige Prüfungskompetenz nicht mehr besteht, wenn der Verlust der Freizügigkeit durch die Ausländerbehörde festgestellt worden ist.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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