07.11.2024

Kindergeld für behinderte Kinder; Ermittlung der behinderungsbedingten Fahrtaufwendungen

1. Werden im Rahmen der Prüfung der behinderungsbedingten Unfähigkeit zum Selbstunterhalt die behinderungsbedingten Mehraufwendungen nicht im Einzelnen nachgewiesen, sondern wird der Behinderten-Pauschbetrag gemäß § 33b Abs. 1 bis 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) angesetzt, können daneben nicht zusätzlich Aufwendungen angesetzt werden, die entweder bereits durch den Pauschbetrag für den Grundbedarf oder den Behinderten-Pauschbetrag abgegolten werden.
2. Unter bestimmten Voraussetzungen können behinderungsbedingte Fahrtaufwendungen neben dem Behinderten-Pauschbetrag geltend gemacht werden, soweit sie nachgewiesen oder glaubhaft gemacht worden und angemessen sind.
3. Die durch das Gesetz zur Erhöhung der Behinderten-Pauschbeträge und zur Anpassung weiterer steuerlicher Regelungen vom 09.12.2020 eingefügte Pauschalierungsregelung des § 33 Abs. 2a EStG ist erstmals für den Veranlagungszeitraum 2021 anzuwenden.
4. Aus A 19.4 Abs. 5 Satz 7 und dem Vorwort der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz vom 17.09.2021 kann nicht abgeleitet werden, dass die Verwaltung sich selbst binden wollte, die Pauschalierungsregelung des § 33 Abs. 2a EStG bereits für die Veranlagungszeiträume 2017 bis 2020 als Schätzungsregelung anzuwenden.

Kurzbesprechung
BFH v. 10.7.2024 - III R 2/23

EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr. 3, § 33 Abs 2 S 1, § 33 Abs 2a, § 33b Abs 1, § 33b Abs 2, § 33b Abs 3, § 63 Abs 1 S 1
AO § 162 Abs 1
DA-KG 2021 Abschn. 19.4 Abs 5 S 7


Streitig war der Kindergeldanspruch für ein behindertes Kind für den Zeitraum Juli 2018 bis November 2018. Konkret ging es um die Frage, ob das Kind imstande war, sich selbst zu unterhalten. Während die Familienkasse hierzu eine Berechnung anstellte, wonach dies der Fall war, machte die Mutter als Anspruchsberechtigte geltend, die behinderungsbedingten Fahrtkosten pauschal mit 900 € entsprechend der seit 2021 geltenden Regelung in § 33 Abs. 2a EStG zu berücksichtigen, so dass die so korrigierte Berechnung das gegenteilige Ergebnis auswies.

Im Revisionsverfahren hob der BFH die Entscheidung der Vorinstanz auf und verwies den Streitfall zur weiteren Sachaufklärung und erneuten Entscheidung an das FG zurück.

Nach § 33b Abs. 1 EStG wird der Behinderten-Pauschbetrag wegen der Aufwendungen für die Hilfe bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, für die Pflege sowie für einen erhöhten Wäschebedarf gewährt. Für die genannten Kategorien von Aufwendungen kann das Wahlrecht zwischen Einzelnachweis und Pauschbetrag im jeweiligen Veranlagungszeitraum nur einheitlich ausgeübt werden (§ 33b Abs. 1 Satz 2 EStG). Dies gilt entsprechend für die im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG anzustellende Berechnung.

Nicht unter die in § 33b Abs. 1 EStG genannten drei Kategorien von Aufwendungen fallen und daher nicht vom Behinderten-Pauschbetrag abgedeckt werden Operationskosten sowie Heilbehandlungen, Kuren, Arznei- und Arztkosten, aber auch Fahrtkosten in bestimmten Fällen. Sie können daher neben dem Behinderten-Pauschbetrag berücksichtigt werden.

Zum Ansatz von Fahrtkosten hat die Rechtsprechung bei Personen mit schwerer Körperbehinderung, die in ihrer Geh- und Stehfähigkeit so erheblich beschränkt sind, dass sie sich außerhalb des Hauses nur mit Hilfe eines Fahrzeugs fortbewegen können, grundsätzlich alle Kraftfahrzeug-Aufwendungen für Privatfahrten neben dem Behinderten-Pauschbetrag anerkannt, soweit sie einen angemessenen Umfang nicht überschreiten. In diesem Fall wurde die Angemessenheitsgrenze des § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG auf 15 000 km pro Jahr festgelegt.

Auf Basis dieser Rechtsprechung hat die Verwaltung auch für Personen, die zwar nicht außergewöhnlich gehbehindert (Merkzeichen aG), blind (Merkzeichen Bl) oder hilflos (Merkzeichen H), aber geh- und stehbehindert (GdB von mindestens 80 oder GdB von mindestens 70 und Merkzeichen G) sind, eine Angemessenheitsgrenze bezüglich Aufwendungen für durch die Behinderung veranlasste unvermeidbare Fahrten, soweit sie nachgewiesen oder glaubhaft gemacht worden sind, vorgesehen und diese auf 3 000 km im Jahr festgelegt.

Ebenso hat die Rechtsprechung bei den vorgenannten Gruppen von behinderten Personen ohne Merkzeichen aG, Bl oder H die zusätzlich zum Behinderten-Pauschbetrag erfolgende Berücksichtigung von Kosten für durch die Behinderung veranlasste unvermeidbare Fahrten als außergewöhnliche Belastung anerkannt, soweit sie nachgewiesen oder glaubhaft gemacht werden und angemessen sind, wobei Aufwendungen für Fahrten bis zu 3 000 km im Jahr als angemessen angesehen wurden.

Durch das Gesetz zur Erhöhung der Behinderten-Pauschbeträge und zur Anpassung weiterer steuerlicher Regelungen vom 09.12.2020 (BStBl I 2020, 1355) wurde § 33 Abs. 2a EStG eingefügt, der eine behinderungsbedingte Fahrtkostenpauschale regelt. Diese erhalten unter anderem Menschen mit einem GdB von mindestens 80 (§ 33 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 EStG). Die Pauschale beträgt in diesem Fall 900 € (§ 33 Abs. 2a Satz 3 EStG). Die Regelung ist gemäß § 52 Abs. 33c EStG i.d.F. des vorgenannten Gesetzes erstmals für den Veranlagungszeitraum 2021 anzuwenden.

Im Streitfall hatte das FG bei seiner Berechnung zu Unrecht eine Fahrtkostenpauschale in Höhe von 75 € pro Monat angesetzt, da diese im Streitjahr 2018 noch keine Anwendung fand. Ein Ansatz von Fahrtkosten in Höhe von 75 € pro Monat war auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Selbstbindung der Verwaltung gerechtfertigt. Denn A 19.4 Abs. 5 Satz 7 DA-KG 2021 bestimmt zwar in Übereinstimmung mit dem Gesetzestext des § 33 Abs. 2a EStG, dass für Aufwendungen für durch die Behinderung veranlasste Fahrten eine jährliche Pauschale von 900 € berücksichtigt wird, wenn ein GdB von mindestens 80 oder ein GdB von mindestens 70 und das Merkzeichen G vorliegt. Hiermit wird jedoch lediglich die für 2021 geltende Rechtslage wiedergeben und mit ihnen keine Ermessensentscheidung dahingehend getroffen, dass diese Pauschalregelung auch für vor 2021 liegende Jahre Anwendung findet.

Mit der Zurückverweisung des Streitfalls wird dem FG die Gelegenheit gegeben, im zweiten Rechtsgang die erforderlichen, bisher jedoch fehlenden tatsächlichen Feststellungen nachzuholen, welche insbesondere die Beurteilung ermöglichen, ob und in welchem Umfang im Streitzeitraum Aufwendungen für durch die Behinderung veranlasste unvermeidbare Fahrten (zum Beispiel mit dem Kraftfahrzeug der Mutter, mit dem öffentlichen Personennahverkehr oder mit einem Taxi) vorlagen.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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