Kindergeld für behinderte Kinder; keine Berücksichtigung des Kindergelds als kindeseigene Mittel
BFH v. 27.11.2019 - III R 28/17
Der Sachverhalt:
Streitig ist der Kindergeldanspruch für ein behindertes Kind für den Zeitraum Oktober 2015 bis Juni 2016 und dabei insbesondere die Frage, inwieweit Sozialleistungen bei den kindeseigenen Mitteln anzurechnen sind. Die Beigeladene ist die Mutter einer im Dezember 1971 geborenen Tochter (T). T ist behindert und lebt in einer ambulant betreuten Wohnform. Der Kläger gewährte T Eingliederungshilfeleistungen nach §§ 53 ff. SGB XII. Diese bestanden aus der Übernahme der vom Träger der Wohneinrichtung in Rechnung gestellten Betreuungskosten (Oktober 2015 bis März 2016 jeweils rd. 285 € pro Monat; ab April 2016 jeweils rd. 295 € pro Monat). Ein Kostenbeitrag wurde bei T gem. § 19 Abs. 3 SGB XII nicht erhoben. Ferner gewährte der Kläger T Hilfe zum Lebensunterhalt (ab November 2015 jeweils rd. 60 € pro Monat; ab Januar 2016 mtl. rd. 100 €). Daneben erhielt T eine Rente wegen voller Erwerbsminderung (bis Juni 2016 mtl. rd. 790 €; ab Juli 2016 mtl. rd. 840 €).
Im Oktober 2015 beantragte der Kläger als Dritter mit berechtigtem Interesse die Festsetzung von Kindergeld für T und die Abzweigung desselben an sich selbst sowie - bei nachträglicher Festsetzung - dessen Erstattung. Nach Anhörung der Beigeladenen reichte auch diese selbst im Februar 2016 einen von ihr unterschriebenen Kindergeldantrag ein und beantragte die Auszahlung des Kindergelds an T. Die beklagte Familienkasse lehnte den Antrag der Beigeladenen unter Hinweis darauf ab, dass T in der Lage sei, ihren Lebensunterhalt durch eigene verfügbare Mittel zu bestreiten. Der Bescheid wurde u.a. auch dem Kläger bekanntgegeben.
Das FG gab der zuletzt auf das Kindergeld ab Oktober 2015 beschränkten Klage für den Zeitraum Oktober 2015 bis Juni 2016 in vollem Umfang statt und wies sie im Übrigen ab. Auf die Revision der Familienkasse hob der BFH das Urteil auf und wies die Klage vollumfänglich ab.
Die Gründe:
Zu Unrecht hat das FG angenommen, dass T i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG unfähig war, sich selbst zu unterhalten.
Nach § 62 Abs. 1 Satz 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, § 32 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht ein Kindergeldanspruch für ein Kind, welches das 18. Lebensjahr vollendet hat u.a. dann, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist. Den Antrag auf Festsetzung des Kindergelds kann außer dem Berechtigten auch stellen, wer ein berechtigtes Interesse an der Leistung des Kindergelds hat. Ein solcher Dritter, der ein berechtigtes Interesse daran hat, dass Kindergeld zugunsten des Kindergeldberechtigten festgesetzt wird, ist insbesondere ein Sozialleistungsträger, der einem behinderten Kind Unterhaltsleistungen gewährt. Darüber hinaus ist der nach § 67 Satz 2 Alt. 2 i.V.m. § 74 Abs. 1 EStG Antragsberechtigte befugt, gegen den das Festsetzungsverfahren abschließenden Bescheid Einspruch einzulegen und gegen die im Einspruchsverfahren ergangene Entscheidung Klage zu erheben.
Die kindergeldrechtliche Berücksichtigung eines volljährigen behinderten Kindes setzt nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG u.a. voraus, dass es außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Ob dies der Fall ist, muss anhand einer monatsweise durchzuführenden Vergleichsrechnung ermittelt werden. Hierbei sind zwei Bezugsgrößen gegenüberzustellen, nämlich einerseits der gesamte existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes, welcher sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammensetzt, und andererseits die finanziellen Mittel des Kindes, zu welchen nicht nur dessen Einkünfte und Bezüge als verfügbares Einkommen, sondern auch Leistungen Dritter gehören. Voraussetzung für die Berücksichtigungsfähigkeit der Mittel ist, dass sie zur Bestreitung des Lebensunterhalts des Kindes bestimmt oder geeignet sind.
Vorliegend hat das FG zu Unrecht die T zur Verfügung stehenden Mittel um das Kindergeld i.H.v. 188 € (Oktober bis Dezember 2015) und 190 € (Januar bis Juni 2016) gekürzt. Insofern ist zwischen den kindergeldrechtlichen und den sozialhilferechtlichen Folgen der Weiterleitung des Kindergelds zu unterscheiden. In kindergeldrechtlicher Hinsicht hat die Weiterleitung des Kindergelds vom Kindergeldberechtigten an das Kind keinen Einfluss auf die dem Kind zur Verfügung stehenden Mittel. Denn Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten an das Kind sind nicht als Einnahmen des Kindes zu berücksichtigen. Gleiches gilt, wenn der Kindergeldberechtigte das zu seinen Gunsten festgesetzte Kindergeld an das Kind weiterleitet, da auch diese Weiterleitung eine Unterhaltsleistung des Kindergeldberechtigten darstellt. Andernfalls könnte die dem Zweck der Kindergeldgewährung entsprechende Weiterleitung des Kindergelds an das Kind die an sich gegebenen Anspruchsvoraussetzungen nachträglich wieder entfallen lassen.
Nichts anderes gilt, wenn in einem solchen Weiterleitungsfall das Kindergeld deshalb nicht beim Kind ankommt oder verbleibt, weil ein Sozialleistungsträger erfolgreich einen Abzweigungsanspruch nach § 74 Abs. 1 EStG oder einen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 EStG geltend gemacht hat. Da das weitergeleitete Kindergeld auf der Einnahmenseite nicht berücksichtigt wird, wird es im Fall eines verhinderten Zuflusses oder eines Abflusses beim Kind auch nicht als (fiktive) Ausgabe berücksichtigt. Dementsprechend kann nicht einerseits die im Streitfall mangels Kindergeldfestsetzung tatsächlich nicht erfolgte Weiterleitung des Kindergelds als bestehend unterstellt und daraus ein entsprechendes Einkommen des Kindes abgeleitet, dieses Kindergeld dann aber auf der Einnahmenseite nicht als zugeflossen, jedoch als abgeflossen behandelt werden.
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Streitig ist der Kindergeldanspruch für ein behindertes Kind für den Zeitraum Oktober 2015 bis Juni 2016 und dabei insbesondere die Frage, inwieweit Sozialleistungen bei den kindeseigenen Mitteln anzurechnen sind. Die Beigeladene ist die Mutter einer im Dezember 1971 geborenen Tochter (T). T ist behindert und lebt in einer ambulant betreuten Wohnform. Der Kläger gewährte T Eingliederungshilfeleistungen nach §§ 53 ff. SGB XII. Diese bestanden aus der Übernahme der vom Träger der Wohneinrichtung in Rechnung gestellten Betreuungskosten (Oktober 2015 bis März 2016 jeweils rd. 285 € pro Monat; ab April 2016 jeweils rd. 295 € pro Monat). Ein Kostenbeitrag wurde bei T gem. § 19 Abs. 3 SGB XII nicht erhoben. Ferner gewährte der Kläger T Hilfe zum Lebensunterhalt (ab November 2015 jeweils rd. 60 € pro Monat; ab Januar 2016 mtl. rd. 100 €). Daneben erhielt T eine Rente wegen voller Erwerbsminderung (bis Juni 2016 mtl. rd. 790 €; ab Juli 2016 mtl. rd. 840 €).
Im Oktober 2015 beantragte der Kläger als Dritter mit berechtigtem Interesse die Festsetzung von Kindergeld für T und die Abzweigung desselben an sich selbst sowie - bei nachträglicher Festsetzung - dessen Erstattung. Nach Anhörung der Beigeladenen reichte auch diese selbst im Februar 2016 einen von ihr unterschriebenen Kindergeldantrag ein und beantragte die Auszahlung des Kindergelds an T. Die beklagte Familienkasse lehnte den Antrag der Beigeladenen unter Hinweis darauf ab, dass T in der Lage sei, ihren Lebensunterhalt durch eigene verfügbare Mittel zu bestreiten. Der Bescheid wurde u.a. auch dem Kläger bekanntgegeben.
Das FG gab der zuletzt auf das Kindergeld ab Oktober 2015 beschränkten Klage für den Zeitraum Oktober 2015 bis Juni 2016 in vollem Umfang statt und wies sie im Übrigen ab. Auf die Revision der Familienkasse hob der BFH das Urteil auf und wies die Klage vollumfänglich ab.
Die Gründe:
Zu Unrecht hat das FG angenommen, dass T i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG unfähig war, sich selbst zu unterhalten.
Nach § 62 Abs. 1 Satz 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, § 32 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht ein Kindergeldanspruch für ein Kind, welches das 18. Lebensjahr vollendet hat u.a. dann, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist. Den Antrag auf Festsetzung des Kindergelds kann außer dem Berechtigten auch stellen, wer ein berechtigtes Interesse an der Leistung des Kindergelds hat. Ein solcher Dritter, der ein berechtigtes Interesse daran hat, dass Kindergeld zugunsten des Kindergeldberechtigten festgesetzt wird, ist insbesondere ein Sozialleistungsträger, der einem behinderten Kind Unterhaltsleistungen gewährt. Darüber hinaus ist der nach § 67 Satz 2 Alt. 2 i.V.m. § 74 Abs. 1 EStG Antragsberechtigte befugt, gegen den das Festsetzungsverfahren abschließenden Bescheid Einspruch einzulegen und gegen die im Einspruchsverfahren ergangene Entscheidung Klage zu erheben.
Die kindergeldrechtliche Berücksichtigung eines volljährigen behinderten Kindes setzt nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG u.a. voraus, dass es außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Ob dies der Fall ist, muss anhand einer monatsweise durchzuführenden Vergleichsrechnung ermittelt werden. Hierbei sind zwei Bezugsgrößen gegenüberzustellen, nämlich einerseits der gesamte existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes, welcher sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammensetzt, und andererseits die finanziellen Mittel des Kindes, zu welchen nicht nur dessen Einkünfte und Bezüge als verfügbares Einkommen, sondern auch Leistungen Dritter gehören. Voraussetzung für die Berücksichtigungsfähigkeit der Mittel ist, dass sie zur Bestreitung des Lebensunterhalts des Kindes bestimmt oder geeignet sind.
Vorliegend hat das FG zu Unrecht die T zur Verfügung stehenden Mittel um das Kindergeld i.H.v. 188 € (Oktober bis Dezember 2015) und 190 € (Januar bis Juni 2016) gekürzt. Insofern ist zwischen den kindergeldrechtlichen und den sozialhilferechtlichen Folgen der Weiterleitung des Kindergelds zu unterscheiden. In kindergeldrechtlicher Hinsicht hat die Weiterleitung des Kindergelds vom Kindergeldberechtigten an das Kind keinen Einfluss auf die dem Kind zur Verfügung stehenden Mittel. Denn Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten an das Kind sind nicht als Einnahmen des Kindes zu berücksichtigen. Gleiches gilt, wenn der Kindergeldberechtigte das zu seinen Gunsten festgesetzte Kindergeld an das Kind weiterleitet, da auch diese Weiterleitung eine Unterhaltsleistung des Kindergeldberechtigten darstellt. Andernfalls könnte die dem Zweck der Kindergeldgewährung entsprechende Weiterleitung des Kindergelds an das Kind die an sich gegebenen Anspruchsvoraussetzungen nachträglich wieder entfallen lassen.
Nichts anderes gilt, wenn in einem solchen Weiterleitungsfall das Kindergeld deshalb nicht beim Kind ankommt oder verbleibt, weil ein Sozialleistungsträger erfolgreich einen Abzweigungsanspruch nach § 74 Abs. 1 EStG oder einen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 EStG geltend gemacht hat. Da das weitergeleitete Kindergeld auf der Einnahmenseite nicht berücksichtigt wird, wird es im Fall eines verhinderten Zuflusses oder eines Abflusses beim Kind auch nicht als (fiktive) Ausgabe berücksichtigt. Dementsprechend kann nicht einerseits die im Streitfall mangels Kindergeldfestsetzung tatsächlich nicht erfolgte Weiterleitung des Kindergelds als bestehend unterstellt und daraus ein entsprechendes Einkommen des Kindes abgeleitet, dieses Kindergeld dann aber auf der Einnahmenseite nicht als zugeflossen, jedoch als abgeflossen behandelt werden.