07.11.2024

Kindergeldrechtliche Ausschlussfrist bei Wanderarbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten der EU

1. Die Regelung des § 66 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes vom 23.06.2017 (EStG a.F.) ist europarechts- und verfassungskonform.
2. Stellt ein Wanderarbeitnehmer, der die Anspruchsvoraussetzungen für einen Kindergeldanspruch im Inland erfüllt, seinen Antrag auf Kindergeld bei der inländischen Familienkasse erst nach Ablauf der in § 66 Abs. 3 EStG a.F. vorgesehenen sechsmonatigen Ausschlussfrist, kann die Ausschlussfrist auch durch einen nach dem Prinzip der europaweiten Antragsgleichstellung (Art. 81 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit) zu berücksichtigenden, im Ausland gestellten Antrag gewahrt werden.
3. Eine Antragsgleichstellung erfolgt jedoch nicht, wenn der Antrag im Wohnmitgliedstaat zu einem Zeitpunkt gestellt wurde, in dem noch kein Auslandsbezug vorlag (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union ‑‑EuGH‑‑ Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 - C-3/21, EU:C:2022:737). Liegt ein Auslandsbezug vor und teilt der Antragsteller den grenzüberschreitenden Sachverhalt weder den entsprechenden Behörden im Wohnmitgliedstaat noch im Tätigkeitsstaat mit, stellt allein der Umstand, dass der Wanderarbeitnehmer wiederkehrende Leistungen erhalten hat, keinen Antrag dar (EuGH-Urteile Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 - C-3/21, EU:C:2022:737; Familienkasse Sachsen vom 25.04.2024 - C-36/23, EU:C:2024:355).

Kurzbesprechung
BFH v. 11.7.2024 - III R 31/23

EStG § 66 Abs 3, § 67
AEUV Art 18, Art 45, Art 267 Abs 3
GG Art 3
EGV 883/2004 Art 4, 883/2004 Art 68, 883/2004 Art 76, 883/2004 Art 81


Die Beteiligten streiten um die Festsetzung von Differenzkindergeld für den Streitzeitraum August 2018 bis Oktober 2018.

Der Antragsteller ist rumänischer Staatsangehöriger und Vater der Kinder V, F und I. Seine Ehefrau, die Mutter der Kinder, erhielt im Streitzeitraum je Kind rumänische Kindergeldleistungen in Höhe von monatlich 84 RON. Die Ehefrau und die Kinder lebten in Rumänien.

Der Antragsteller war vom 7.8.2018 bis zum 20.12.2018 in der Bundesrepublik Deutschland nichtselbständig beschäftigt.

Am 22.05.2019 stellte er bei der Familienkasse einen Antrag auf Kindergeld für alle drei Kinder. Die Familienkasse lehnte die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum von August bis Oktober 2018 ab, weil die Festsetzung für einen längeren Zeitraum als die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen sei, gemäß § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Steuerumgehungsbekämpfungsgesetzes ‑‑StUmgBG‑‑ vom 23.06.2017 (BGBl I 2017, 1682 ‑‑EStG a.F.‑‑) ausgeschlossen sei.

Gegen den Ablehnungsbescheid legte der Antragsteller Einspruch ein und bestritt die Verfassungsmäßigkeit der angewandten Vorschrift. Nach erfolglosem Einspruch legte er Klage ein. Während des Klageverfahrens hat die Familienkasse zwei Anfragen an den rumänischen Leistungsträger gestellt. Die rumänische Verbindungsstelle teilte mit, dass die Kindsmutter in Rumänien einer Erwerbstätigkeit nachgehe, die in Rumänien gestellten Anträge auf Familienleistungen für das Kind V im März 2010 und das Kind I im April 2016 erfolgt seien, und dass man keine Informationen über die grenzüberschreitende Situation der Familie erhalten habe.

Nach erfolglosem Klageverfahren wies auch der BFH die eingelegte Revision als unbegründet zurück.

Gemäß § 66 Abs. 3 EStG a.F. wird das Kindergeld nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt, in dem der Antrag (vgl. § 67 EStG) auf Kindergeld eingegangen ist. Diese Vorschrift beschränkt die rückwirkende Festsetzung von Kindergeld, da sie dem Festsetzungsverfahren und nicht dem Erhebungsverfahren zuzuordnen ist.

§ 66 Abs. 3 EStG a.F. ist am 01.01.2018 in Kraft getreten (Art. 11 Abs. 2 StUmgBG) und gemäß § 52 Abs. 49a Satz 7 EStG i.d.F. des Art. 7 Nr. 6 Buchst. c StUmgBG und Art. 9 Nr. 5 Buchst. a Doppelbuchst. bb des Gesetzes gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch auf Anträge anzuwenden, die nach dem 31.12.2017 und vor dem 18.07.2019 eingehen.

Die Regelung war damit im Streitfall anwendbar, da der Antrag des Antragstellers erst am 22.05.2019 bei der Familienkasse eingegangen ist. Insoweit wahrt dieser Antrag die Sechsmonatsfrist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. für den Streitzeitraum (August 2018 bis Oktober 2018) nicht.

Der BFH entschied weiterhin, dass
  • ein die Frist nach § 66 Abs. 3 EStG a.F. wahrender Antrag auch nicht über das europäische Recht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vorlag, welches ein umfassendes Prinzip der europaweiten Antragsgleichstellung vorsieht,
  • § 66 Abs. 3 EStG a.F. i.V.m. § 67 EStG, der die Festsetzung von Differenzkindergeld im Streitzeitraum ausschließt, verstößt auch nicht gegen EU-Recht verstößt. Denn der BFH erachtet die Unionsrechtslage angesichts der vorliegenden EuGH- für eindeutig, so dass keine Vorlagepflicht an den EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht,
  • § 66 Abs. 3 EStG a.F. i.V.m. § 67 EStG auch nicht verfassungswidrig ist.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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