Reihengeschäft: Keine notwendige Beiladung des Ersterwerbers im finanzgerichtlichen Verfahren des Lieferers
Kurzbesprechung
BFH-Beschluss v. 22.11.2023 - XI R 1/20
UStG § 1 Abs 1 Nr. 1 S 1, § 1 Abs 3, § 3 Abs 1, § 3 Abs 6 S 5, § 3 Abs 6 S 6, § 3 Abs 7 S 2, § 4 Nr. 1 Buchst a, § 4 Nr. 1 Buchst b, § 6, § 6a Abs 1 S 1, § 6a Abs 4 S 1
EGRL 112/2006 Art 14 Abs 1, 112/2006 Art 32 UAbs 1
UStDV § 17aff
UStAE Abschn. 3.14 Abs 4 S 1
FGO § 11 Abs 2, § 60 Abs 3 S 1, § 123 Abs 1 S 2, § 126 Abs 3 S 1 Nr. 2, § 126 Abs 6 S 1, § 126a, § 135 Abs 2
AEUV Art 267
RsprEinhG § 2
CMR Art 9 Abs 1
1. Notwendige Beiladung
Nach § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO sind Dritte beizuladen, wenn sie an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann (notwendige Beiladung). Das ist dann der Fall, wenn die Entscheidung notwendigerweise und unmittelbar Rechte Dritter gestaltet, bestätigt, verändert oder zum Erlöschen bringt, insbesondere also in Fällen, in denen das, was einen Prozessbeteiligten begünstigt oder benachteiligt, notwendigerweise umgekehrt den Dritten benachteiligen oder begünstigen muss, wobei ein sachlogischer oder rechnerischer Zusammenhang nicht genügt.
Für eine notwendige Beiladung im Sinne des § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO reicht es daher nicht aus, dass die zu entscheidende Frage logisch nur einheitlich entschieden werden kann. Eine solche gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Lieferer und dem Abnehmer, der zugleich Lieferer ist, ist hinsichtlich einer Entscheidung in einem § 3 Abs. 6 Satz 6 UStG a.F. betreffenden Rechtsstreit nicht gegeben. Eine dem BFH nach § 123 Abs. 1 Satz 2 FGO im Revisionsverfahren eröffnete Nachholung einer notwendigen Beiladung im Sinne des § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO war daher im Streitfall nicht veranlasst.
2. Steuerpflicht der Lieferung
Die Annahme des FG, dass die in Rede stehende Lieferung der Steuerpflichtigen steuerbar und steuerpflichtig war, hat der BFH bestätigt.
Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG unterliegen unter anderem Lieferungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt, der Umsatzsteuer. Nach dem im Streitfall noch anwendbaren § 3 Abs. 6 Satz 5 UStG a.F., mithin bei Reihengeschäften nach altem Recht, galten Lieferungen, die der Beförderungs- oder Versendungslieferung vorangehen, dort als ausgeführt, wo die Beförderung oder Versendung des Gegenstands beginnt.
Schließen ‑ wie im Streitfall ‑ mehrere Unternehmer über denselben Gegenstand Umsatzgeschäfte ab und gelangt dieser Gegenstand bei der Beförderung oder Versendung unmittelbar vom ersten Unternehmer an den letzten Abnehmer, liegt ein Reihengeschäft vor, bei dem nach § 3 Abs. 6 Satz 5 UStG a.F. die Beförderung oder Versendung des Gegenstands nur einer der Lieferungen zuzuordnen ist.
Ein solches Reihengeschäft ist auch bei Ausfuhrlieferungen möglich. Die beteiligten Unternehmer führen dabei mehrere aufeinander folgende Lieferungen aus.
Bei der Verschaffung der Verfügungsmacht (§ 3 Abs. 1 UStG, Art. 14 Abs. 1 MwStSystRL) und der Beförderung beziehungsweise Versendung in den anderen Mitgliedstaat (§ 3 Abs. 6 UStG a.F., Art. 32 Unterabs. 1 MwStSystRL) handelt es sich um zwei verschiedene Tatbestandsmerkmale, die getrennt voneinander zu prüfen sind. Dies gilt auch bei Ausfuhrlieferungen.
Das FG war zutreffend davon ausgegangen, dass die Steuerpflichtige Veranstaltungstechnik an A und A die Veranstaltungstechnik an K geliefert hatte. Die Warenbewegung war nicht der Steuerpflichtigen zuzuordnen, weil sie objektiv die Ware grenzüberschreitend weder versendet noch befördert hatte. Hierbei konnte das FG, das eine Versendung der Ware sowohl durch K als auch durch A gleichermaßen für möglich hielt, von einer weiteren Sachverhaltsaufklärung absehen, denn in beiden Fällen war die Warenbewegung nicht der Lieferung der Steuerpflichtigen zuzurechnen.
Wird in einem Reihengeschäft im Sinne von § 3 Abs. 6 Satz 5 UStG a.F. der Gegenstand der Lieferung durch einen Abnehmer befördert oder versendet, der zugleich Lieferer ist, ist nach § 3 Abs. 6 Satz 6 UStG a.F. die Beförderung oder Versendung der Lieferung an ihn zuzuordnen, es sei denn, er weist nach, dass er den Gegenstand als Lieferer befördert oder versendet hat.
Für diese Zuordnungsentscheidung nach altem Recht ist entsprechend der ständigen Rechtsprechung des EuGH im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls maßgeblich, ob die Zweitlieferung noch im Inland (vor oder bei der Beförderung oder Versendung) stattgefunden hat. Ist dies der Fall, kann ‑ wie im Streitfall ‑ die Beförderung oder Versendung nicht mehr der Erstlieferung an den Ersterwerber zugeordnet werden.
Nach diesen Grundsätzen war die grenzüberschreitende Warenbewegung nicht mehr der von der Steuerpflichtigen an A ausgeführten Lieferung zuzurechnen, da die Lieferung von A an K noch im Inland erfolgt war.
3. Lieferung nicht steuerbefreit
Die steuerbare Lieferung war nicht steuerfrei. Denn es lag weder eine steuerfreie Ausfuhrlieferung gemäß § 4 Nr. 1 Buchst. a i.V.m. § 6 UStG noch eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung gemäß § 4 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. § 6a UStG vor, da die Steuerpflichtige die Veranstaltungstechnik weder in das Drittlandsgebiet befördert oder versendet hatte. Es fehlte an der für eine Steuerbefreiung notwendigen Warenbewegung bei der Lieferung an A.
4. Kein Vertrauensschutz
Das FG war zutreffend davon ausgegangen, dass die Steuerpflichtige keinen Vertrauensschutz nach § 6a Abs. 4 Satz 1 UStG a.F. erhält. Hat der Unternehmer eine Lieferung als steuerfrei behandelt, obwohl die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 Satz 1 UStG a.F. nicht vorliegen, ist die Lieferung gleichwohl als steuerfrei anzusehen, wenn die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung auf unrichtigen Angaben des Abnehmers beruht und der Unternehmer die Unrichtigkeit dieser Angaben auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte (§ 6a Abs. 4 Satz 1 UStG a.F.).
Die Frage, ob die "Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns" beachtet wurde, ist durch eine Würdigung der tatsächlichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls (gegebenenfalls nach Beweisaufnahme) zu entscheiden. Danach konnte die Steuerpflichtige die Steuerbefreiung unter dem Gesichtspunkt des Gutglaubensschutzes im Sinne des § 6a Abs. 4 UStG a.F. nicht beanspruchen.
Denn das FG hatte festgestellt, dass A der Steuerpflichtigen gegenüber keine unrichtigen, sondern allenfalls unklare Angaben gemacht hatte. Unter Einbeziehung der E-Mails und dem der Klägerin vorliegenden Sales Contract war jedenfalls unklar geblieben, ob A die Spedition beauftragt hatte. Bei unklaren Umständen, von denen die Steuerfreiheit oder -pflicht abhängt, entspricht es der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns im Sinne von § 6 a Abs. 4 UStG a.F., die unklaren Umstände aufzuklären. Dies war im Streitfall nicht geschehen.
Verlag Dr. Otto Schmidt
UStG § 1 Abs 1 Nr. 1 S 1, § 1 Abs 3, § 3 Abs 1, § 3 Abs 6 S 5, § 3 Abs 6 S 6, § 3 Abs 7 S 2, § 4 Nr. 1 Buchst a, § 4 Nr. 1 Buchst b, § 6, § 6a Abs 1 S 1, § 6a Abs 4 S 1
EGRL 112/2006 Art 14 Abs 1, 112/2006 Art 32 UAbs 1
UStDV § 17aff
UStAE Abschn. 3.14 Abs 4 S 1
FGO § 11 Abs 2, § 60 Abs 3 S 1, § 123 Abs 1 S 2, § 126 Abs 3 S 1 Nr. 2, § 126 Abs 6 S 1, § 126a, § 135 Abs 2
AEUV Art 267
RsprEinhG § 2
CMR Art 9 Abs 1
1. Notwendige Beiladung
Nach § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO sind Dritte beizuladen, wenn sie an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann (notwendige Beiladung). Das ist dann der Fall, wenn die Entscheidung notwendigerweise und unmittelbar Rechte Dritter gestaltet, bestätigt, verändert oder zum Erlöschen bringt, insbesondere also in Fällen, in denen das, was einen Prozessbeteiligten begünstigt oder benachteiligt, notwendigerweise umgekehrt den Dritten benachteiligen oder begünstigen muss, wobei ein sachlogischer oder rechnerischer Zusammenhang nicht genügt.
Für eine notwendige Beiladung im Sinne des § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO reicht es daher nicht aus, dass die zu entscheidende Frage logisch nur einheitlich entschieden werden kann. Eine solche gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Lieferer und dem Abnehmer, der zugleich Lieferer ist, ist hinsichtlich einer Entscheidung in einem § 3 Abs. 6 Satz 6 UStG a.F. betreffenden Rechtsstreit nicht gegeben. Eine dem BFH nach § 123 Abs. 1 Satz 2 FGO im Revisionsverfahren eröffnete Nachholung einer notwendigen Beiladung im Sinne des § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO war daher im Streitfall nicht veranlasst.
2. Steuerpflicht der Lieferung
Die Annahme des FG, dass die in Rede stehende Lieferung der Steuerpflichtigen steuerbar und steuerpflichtig war, hat der BFH bestätigt.
Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG unterliegen unter anderem Lieferungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt, der Umsatzsteuer. Nach dem im Streitfall noch anwendbaren § 3 Abs. 6 Satz 5 UStG a.F., mithin bei Reihengeschäften nach altem Recht, galten Lieferungen, die der Beförderungs- oder Versendungslieferung vorangehen, dort als ausgeführt, wo die Beförderung oder Versendung des Gegenstands beginnt.
Schließen ‑ wie im Streitfall ‑ mehrere Unternehmer über denselben Gegenstand Umsatzgeschäfte ab und gelangt dieser Gegenstand bei der Beförderung oder Versendung unmittelbar vom ersten Unternehmer an den letzten Abnehmer, liegt ein Reihengeschäft vor, bei dem nach § 3 Abs. 6 Satz 5 UStG a.F. die Beförderung oder Versendung des Gegenstands nur einer der Lieferungen zuzuordnen ist.
Ein solches Reihengeschäft ist auch bei Ausfuhrlieferungen möglich. Die beteiligten Unternehmer führen dabei mehrere aufeinander folgende Lieferungen aus.
Bei der Verschaffung der Verfügungsmacht (§ 3 Abs. 1 UStG, Art. 14 Abs. 1 MwStSystRL) und der Beförderung beziehungsweise Versendung in den anderen Mitgliedstaat (§ 3 Abs. 6 UStG a.F., Art. 32 Unterabs. 1 MwStSystRL) handelt es sich um zwei verschiedene Tatbestandsmerkmale, die getrennt voneinander zu prüfen sind. Dies gilt auch bei Ausfuhrlieferungen.
Das FG war zutreffend davon ausgegangen, dass die Steuerpflichtige Veranstaltungstechnik an A und A die Veranstaltungstechnik an K geliefert hatte. Die Warenbewegung war nicht der Steuerpflichtigen zuzuordnen, weil sie objektiv die Ware grenzüberschreitend weder versendet noch befördert hatte. Hierbei konnte das FG, das eine Versendung der Ware sowohl durch K als auch durch A gleichermaßen für möglich hielt, von einer weiteren Sachverhaltsaufklärung absehen, denn in beiden Fällen war die Warenbewegung nicht der Lieferung der Steuerpflichtigen zuzurechnen.
Wird in einem Reihengeschäft im Sinne von § 3 Abs. 6 Satz 5 UStG a.F. der Gegenstand der Lieferung durch einen Abnehmer befördert oder versendet, der zugleich Lieferer ist, ist nach § 3 Abs. 6 Satz 6 UStG a.F. die Beförderung oder Versendung der Lieferung an ihn zuzuordnen, es sei denn, er weist nach, dass er den Gegenstand als Lieferer befördert oder versendet hat.
Für diese Zuordnungsentscheidung nach altem Recht ist entsprechend der ständigen Rechtsprechung des EuGH im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls maßgeblich, ob die Zweitlieferung noch im Inland (vor oder bei der Beförderung oder Versendung) stattgefunden hat. Ist dies der Fall, kann ‑ wie im Streitfall ‑ die Beförderung oder Versendung nicht mehr der Erstlieferung an den Ersterwerber zugeordnet werden.
Nach diesen Grundsätzen war die grenzüberschreitende Warenbewegung nicht mehr der von der Steuerpflichtigen an A ausgeführten Lieferung zuzurechnen, da die Lieferung von A an K noch im Inland erfolgt war.
3. Lieferung nicht steuerbefreit
Die steuerbare Lieferung war nicht steuerfrei. Denn es lag weder eine steuerfreie Ausfuhrlieferung gemäß § 4 Nr. 1 Buchst. a i.V.m. § 6 UStG noch eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung gemäß § 4 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. § 6a UStG vor, da die Steuerpflichtige die Veranstaltungstechnik weder in das Drittlandsgebiet befördert oder versendet hatte. Es fehlte an der für eine Steuerbefreiung notwendigen Warenbewegung bei der Lieferung an A.
4. Kein Vertrauensschutz
Das FG war zutreffend davon ausgegangen, dass die Steuerpflichtige keinen Vertrauensschutz nach § 6a Abs. 4 Satz 1 UStG a.F. erhält. Hat der Unternehmer eine Lieferung als steuerfrei behandelt, obwohl die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 Satz 1 UStG a.F. nicht vorliegen, ist die Lieferung gleichwohl als steuerfrei anzusehen, wenn die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung auf unrichtigen Angaben des Abnehmers beruht und der Unternehmer die Unrichtigkeit dieser Angaben auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte (§ 6a Abs. 4 Satz 1 UStG a.F.).
Die Frage, ob die "Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns" beachtet wurde, ist durch eine Würdigung der tatsächlichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls (gegebenenfalls nach Beweisaufnahme) zu entscheiden. Danach konnte die Steuerpflichtige die Steuerbefreiung unter dem Gesichtspunkt des Gutglaubensschutzes im Sinne des § 6a Abs. 4 UStG a.F. nicht beanspruchen.
Denn das FG hatte festgestellt, dass A der Steuerpflichtigen gegenüber keine unrichtigen, sondern allenfalls unklare Angaben gemacht hatte. Unter Einbeziehung der E-Mails und dem der Klägerin vorliegenden Sales Contract war jedenfalls unklar geblieben, ob A die Spedition beauftragt hatte. Bei unklaren Umständen, von denen die Steuerfreiheit oder -pflicht abhängt, entspricht es der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns im Sinne von § 6 a Abs. 4 UStG a.F., die unklaren Umstände aufzuklären. Dies war im Streitfall nicht geschehen.