Restschuldbefreiung bei Betriebsaufgabe
Kurzbesprechung
BFH v. 6. 4. 2022 - X R 28/19
InsO § 38, § 55 Abs 1, § 286, § 300 Abs 1 S 1, § 301 Abs 1
AO § 174 Abs 4, § 175 Abs 1 S 1 Nr. 2, § 175 Abs 1 S 2, § 176 Abs 1 S 1 Nr. 3, § 176 Abs 2 EStG § 16 Abs 3 S 1, § 16 Abs 3 S 1
Die Restschuldbefreiung betrifft nach § 286 InsO die bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch nicht erfüllten Insolvenzforderungen der Insolvenzgläubiger i.S. des § 38 InsO. Grundsätzlich werden diese Forderungen ab dem Zeitpunkt der Rechtskraft des Beschlusses des Insolvenzgerichts gemäß § 300 Abs. 1 Satz 1 InsO, mit dem die Restschuldbefreiung erteilt wird, in unvollkommene Verbindlichkeiten (sog. Naturalobligationen) umgewandelt, deren Erfüllung von da ab ‑ d.h. ex nunc ‑ freiwillig möglich ist, jedoch nicht erzwungen werden kann. Betriebliche Verbindlichkeiten sind daher bis zum Eintritt der Restschuldbefreiung zum Nennwert zu passivieren. Der Beschluss, mit dem die Restschuldbefreiung erteilt wird, wirkt nach § 301 Abs. 1 Satz1 InsO gegen alle Insolvenzgläubiger, selbst wenn sie ihre Forderungen nicht angemeldet haben (§ 301 Abs. 1 Satz 2 InsO).
Zwar wirkt die Erteilung der Restschuldbefreiung steuerrechtlich grundsätzlich nicht zurück. Das gilt jedoch nicht in Bezug auf betriebliche Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit einer Betriebsaufgabe. Vielmehr ist die Befreiung von solchen Verbindlichkeiten auf den Zeitpunkt der Betriebsaufgabe zurückzubeziehen, unabhängig davon, ob diese vor oder nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens lag.
Soweit der Betrieb vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens i.S. des § 16 Abs. 3 EStG aufgegeben worden ist, kommt es entscheidend darauf an, dass die Restschuldbefreiung ausgehend von den zu § 16 EStG entwickelten Grundsätzen zum Wegfall der in der Aufgabebilanz ausgewiesenen betrieblichen Verbindlichkeiten führt. Nichts anderes kann gelten, wenn die Betriebsaufgabe erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgt ist. Entscheidend ist auch in diesem Fall, dass die mit der Restschuldbefreiung verbundene rechtserhebliche Sachverhaltsänderung an den einmaligen Vorgang der Betriebsaufgabe anknüpft, die nicht in einer Folgebilanz oder nach den Grundsätzen des Zuflussprinzips in einem späteren Veranlagungszeitraum berücksichtigt werden kann.
Mit der Betriebsaufgabe endet die Existenz des Gewerbebetriebs, so dass die einkommensteuerlichen Rechtsfolgen der Ausbuchung der von der Restschuldbefreiung betroffenen betrieblichen Verbindlichkeiten zu diesem Zeitpunkt gezogen werden müssen.
Das FA konnte den streitbefangenen Einkommensteuerbescheid 2005 auch gemäß § 174 Abs. 4 AO ändern. Die Vorschrift erfasst dabei auch Sachverhalte, in denen die Finanzbehörde darüber irrt, in welchem Jahr die steuerlichen Folgerungen aus einem bestimmten Sachverhalt zu ziehen sind.
Im Streitfall hatte das FA zu entscheiden, in welchem Jahr die Erteilung einer Restschuldbefreiung zu einem Erlöschen der betrieblichen Verbindlichkeiten des (damaligen) Insolvenzschuldners führt. Über diesen Zeitpunkt hatte das FA geirrt und deshalb zunächst eine Korrektur der Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr 2011 sowie eine Aufhebung der Verlustfeststellung zum 31.12.2011 vorgenommen. Es hätte jedoch aufgrund der einkommensteuerrechtlichen Rückwirkung der Restschuldbefreiung auf den Zeitpunkt der Betriebsaufgabe die Einkommensteuerfestsetzung des Streitjahres 2005 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ändern müssen.
Dabei ist es für die Beurteilung des Sachverhalts unerheblich, ob der für die rechtsirrige Beurteilung ursächliche Fehler im Tatsächlichen (Betriebsaufgabe im Jahr der Eröffnung des Insolvenzverfahrens) oder im Rechtlichen (Rückwirkung der Restschuldbefreiung als Ausnahme bei betrieblichen Verbindlichkeiten eines aufgegebenen Betriebs) liegt.
Ein Irrtum des FA über die zeitliche Berücksichtigung des Befreiungsgewinns ist nicht deshalb zu verneinen, weil die Finanzverwaltung im BMF-Schreiben in BStBl I 2010, 18 angewiesen worden war, die Restschuldbefreiung (nunmehr) erst im Jahr ihrer Erteilung zu berücksichtigen. Entscheidend war allein, dass das FA den Sachverhalt bei Erlass des Einkommensteueränderungsbescheides 2011 kannte, ihn aber fälschlicherweise nicht im Streitjahr 2005 berücksichtigte.
Die Änderung des Einkommensteuerbescheides 2005 war auch nicht wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung ausgeschlossen und verstößt auch nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Einer Änderung der Einkommensteuerfestsetzung 2005 gemäß § 174 Abs. 4 AO standen auch nicht die Regelungen des besonderen Vertrauensschutzes aus § 176 AO entgegen.
Aufgrund der fehlenden Feststellungen des FG zu den Zeitpunkten der Betriebsaufgabe einerseits sowie der Beendigung des Insolvenzverfahrens konnte der BFH allerdings nicht beurteilen, ob der allein an den Steuerpflichtigen gerichtete Einkommensteuerbescheid 2005 überhaupt wirksam bekanntgegeben wurde. Wäre dies nicht der Fall, wären auch die Folgeänderungen fehlerhaft und daher aufzuheben. Der BFH wies daher den Streitfall zur weiteren Sachverhaltsaufklärung und erneuten Entscheidung an das FG zurück.
Verlag Dr. Otto Schmidt
InsO § 38, § 55 Abs 1, § 286, § 300 Abs 1 S 1, § 301 Abs 1
AO § 174 Abs 4, § 175 Abs 1 S 1 Nr. 2, § 175 Abs 1 S 2, § 176 Abs 1 S 1 Nr. 3, § 176 Abs 2 EStG § 16 Abs 3 S 1, § 16 Abs 3 S 1
Die Restschuldbefreiung betrifft nach § 286 InsO die bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch nicht erfüllten Insolvenzforderungen der Insolvenzgläubiger i.S. des § 38 InsO. Grundsätzlich werden diese Forderungen ab dem Zeitpunkt der Rechtskraft des Beschlusses des Insolvenzgerichts gemäß § 300 Abs. 1 Satz 1 InsO, mit dem die Restschuldbefreiung erteilt wird, in unvollkommene Verbindlichkeiten (sog. Naturalobligationen) umgewandelt, deren Erfüllung von da ab ‑ d.h. ex nunc ‑ freiwillig möglich ist, jedoch nicht erzwungen werden kann. Betriebliche Verbindlichkeiten sind daher bis zum Eintritt der Restschuldbefreiung zum Nennwert zu passivieren. Der Beschluss, mit dem die Restschuldbefreiung erteilt wird, wirkt nach § 301 Abs. 1 Satz1 InsO gegen alle Insolvenzgläubiger, selbst wenn sie ihre Forderungen nicht angemeldet haben (§ 301 Abs. 1 Satz 2 InsO).
Zwar wirkt die Erteilung der Restschuldbefreiung steuerrechtlich grundsätzlich nicht zurück. Das gilt jedoch nicht in Bezug auf betriebliche Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit einer Betriebsaufgabe. Vielmehr ist die Befreiung von solchen Verbindlichkeiten auf den Zeitpunkt der Betriebsaufgabe zurückzubeziehen, unabhängig davon, ob diese vor oder nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens lag.
Soweit der Betrieb vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens i.S. des § 16 Abs. 3 EStG aufgegeben worden ist, kommt es entscheidend darauf an, dass die Restschuldbefreiung ausgehend von den zu § 16 EStG entwickelten Grundsätzen zum Wegfall der in der Aufgabebilanz ausgewiesenen betrieblichen Verbindlichkeiten führt. Nichts anderes kann gelten, wenn die Betriebsaufgabe erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgt ist. Entscheidend ist auch in diesem Fall, dass die mit der Restschuldbefreiung verbundene rechtserhebliche Sachverhaltsänderung an den einmaligen Vorgang der Betriebsaufgabe anknüpft, die nicht in einer Folgebilanz oder nach den Grundsätzen des Zuflussprinzips in einem späteren Veranlagungszeitraum berücksichtigt werden kann.
Mit der Betriebsaufgabe endet die Existenz des Gewerbebetriebs, so dass die einkommensteuerlichen Rechtsfolgen der Ausbuchung der von der Restschuldbefreiung betroffenen betrieblichen Verbindlichkeiten zu diesem Zeitpunkt gezogen werden müssen.
Das FA konnte den streitbefangenen Einkommensteuerbescheid 2005 auch gemäß § 174 Abs. 4 AO ändern. Die Vorschrift erfasst dabei auch Sachverhalte, in denen die Finanzbehörde darüber irrt, in welchem Jahr die steuerlichen Folgerungen aus einem bestimmten Sachverhalt zu ziehen sind.
Im Streitfall hatte das FA zu entscheiden, in welchem Jahr die Erteilung einer Restschuldbefreiung zu einem Erlöschen der betrieblichen Verbindlichkeiten des (damaligen) Insolvenzschuldners führt. Über diesen Zeitpunkt hatte das FA geirrt und deshalb zunächst eine Korrektur der Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr 2011 sowie eine Aufhebung der Verlustfeststellung zum 31.12.2011 vorgenommen. Es hätte jedoch aufgrund der einkommensteuerrechtlichen Rückwirkung der Restschuldbefreiung auf den Zeitpunkt der Betriebsaufgabe die Einkommensteuerfestsetzung des Streitjahres 2005 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ändern müssen.
Dabei ist es für die Beurteilung des Sachverhalts unerheblich, ob der für die rechtsirrige Beurteilung ursächliche Fehler im Tatsächlichen (Betriebsaufgabe im Jahr der Eröffnung des Insolvenzverfahrens) oder im Rechtlichen (Rückwirkung der Restschuldbefreiung als Ausnahme bei betrieblichen Verbindlichkeiten eines aufgegebenen Betriebs) liegt.
Ein Irrtum des FA über die zeitliche Berücksichtigung des Befreiungsgewinns ist nicht deshalb zu verneinen, weil die Finanzverwaltung im BMF-Schreiben in BStBl I 2010, 18 angewiesen worden war, die Restschuldbefreiung (nunmehr) erst im Jahr ihrer Erteilung zu berücksichtigen. Entscheidend war allein, dass das FA den Sachverhalt bei Erlass des Einkommensteueränderungsbescheides 2011 kannte, ihn aber fälschlicherweise nicht im Streitjahr 2005 berücksichtigte.
Die Änderung des Einkommensteuerbescheides 2005 war auch nicht wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung ausgeschlossen und verstößt auch nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Einer Änderung der Einkommensteuerfestsetzung 2005 gemäß § 174 Abs. 4 AO standen auch nicht die Regelungen des besonderen Vertrauensschutzes aus § 176 AO entgegen.
Aufgrund der fehlenden Feststellungen des FG zu den Zeitpunkten der Betriebsaufgabe einerseits sowie der Beendigung des Insolvenzverfahrens konnte der BFH allerdings nicht beurteilen, ob der allein an den Steuerpflichtigen gerichtete Einkommensteuerbescheid 2005 überhaupt wirksam bekanntgegeben wurde. Wäre dies nicht der Fall, wären auch die Folgeänderungen fehlerhaft und daher aufzuheben. Der BFH wies daher den Streitfall zur weiteren Sachverhaltsaufklärung und erneuten Entscheidung an das FG zurück.