12.08.2021

Rückforderung von zu Unrecht gezahltem Kindergeld bei grenzüberschreitenden Sachverhalten

1. Für die Frage, ob Kindergeld behalten werden darf oder zurückzuzahlen ist, kommt es auf das Vorliegen von Kindergeldfestsetzungs- oder Aufhebungsbescheiden an und nicht auf den abstrakten materiell-rechtlichen Kindergeldanspruch.
2. Bei der Rückforderung von zu Unrecht gezahltem Kindergeld ergibt sich bei länderübergreifenden Sachverhalten keine Anspruchskonkurrenz des Anspruchs nach den europarechtlichen Regelungen der VO Nr. 883/2004 und VO Nr. 987/2009 mit dem Rückforderungsanspruch nach den nationalen Vorschriften.
3. Ein etwaiger Erstattungsanspruch des deutschen Leistungsträgers gegen einen ausländischen Leistungsträger nach den europarechtlichen Bestimmungen ist kein auf steuerrechtlichen Gründen beruhender öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO. Ein Ausgleichsanspruch zwischen den Mitgliedstaaten nach der VO Nr. 987/2009 berührt daher nicht den Rückforderungsanspruch der Familienkasse gegen den Kindergeldberechtigten.

Kurzbesprechung
BFH v. 14.4.2021 - III R 36/20

EStG § 31 S. 3
AO § 37 Abs. 2, § 38, § 44
EGV 883/2004 Art. 68, 987/2009 Art. 6, 987/2009 Art. 60, 987/2009 Art. 73


Die Anspruchsberechtigte hat ihren Wohnsitz im Inland. Sie ist schwedische Staatsangehörige und Mutter der in ihrem Haushalt lebenden Kinder. Sie hat das alleinige Sorgerecht für die Kinder. Der von der Anspruchsberechtigten geschiedene Kindesvater lebt in Schweden und übt dort seit Januar 2017 eine Erwerbstätigkeit aus. Die Anspruchsberechtigte ist nicht erwerbstätig und bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes.

Die Familienkasse zahlte für die Kinder zunächst laufend Kindergeld. Nach Kenntniserlangung von der Erwerbstätigkeit des Kindesvaters hob sie die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Januar bis Juli 2017 teilweise auf. Sie führte aus, deutsches Kindergeld sei gegenüber den schwedischen Leistungen nachrangig, für den genannten Zeitraum bestehe nur noch ein Anspruch in Höhe des Unterschiedsbetrages. Zugleich forderte sie den bereits überzahlten Betrag in Höhe von insgesamt 1.529,92 € von der Anspruchsberechtigten zurück.

Ist eine Steuervergütung wie das Kindergeld (§ 31 Satz 3) ohne rechtlichen Grund gezahlt worden, so hat derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, nach § 37 Abs. 2 AO gegenüber dem Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten Betrages. Diese Rechtsfolge tritt auch ein, wenn der rechtliche Grund für die Zahlung später wegfällt (§ 37 Abs. 2 Satz 2 AO).

Im Streitfall war das Kindergeld für den Streitzeitraum in Höhe von 1.529,92 € ohne Rechtsgrund gezahlt worden. Die Anspruchsberechtigte ist Leistungsempfängerin des zu Unrecht gezahlten Kindergeldes. Leistungsempfänger i.S. des § 37 Abs. 2 AO ist derjenige, demgegenüber die Finanzbehörde oder Familienkasse ihre --vermeintlich oder tatsächlich bestehende-- abgabenrechtliche Verpflichtung erfüllen will.

§ 37 Abs. 2 Satz 1 AO räumt der Behörde auch keinen Ermessensspielraum ein. Da es sich bei dem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch um einen Anspruch aus dem Steuerrechtsverhältnis handelt, richtet sich seine Entstehung nach § 38 AO. Hiernach entsteht der Anspruch, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Die Familienkasse war daher nicht gehalten, bei der Entscheidung über den Erlass des angegriffenen Bescheids zu prüfen, ob die Rückforderung ermessenskonform war.

Der schwedische Leistungsträger war im Streitfall wegen dieses gegen die Anspruchsberechtigte gerichteten Rückforderungsanspruch auch nicht Gesamtschuldner (§ 44 AO) mit der Folge, dass bei der Inanspruchnahme eines Gesamtschuldners es grundsätzlich in das Ermessen der Behörde nach § 44 Abs. 1 Satz 1 AO gestellt ist, an wen sie sich wendet. Der Familienkasse steht für das rechtsgrundlos gezahlte Kindergeld in Höhe des vermeintlich bestehenden Anspruchs auf schwedische Familienleistungen daher auch kein weiterer (Haftungs-)Schuldner zur Verfügung, der eine ermessensgerechte Auswahlentscheidung unter den Schuldnern nach sich ziehen könnte.

Gemäß Art. 60 Abs. 5 der VO Nr. 987/2009 kann zwar der Träger, der eine vorläufige Leistungszahlung vorgenommen hat, die höher ist als der letztlich zu seinen Lasten gehende Betrag, den zu viel gezahlten Betrag nach dem Verfahren des Art. 73 der Durchführungsverordnung vom vorrangig zuständigen Träger zurückfordern. Wenn aber die Kindergeldfestsetzung bestandskräftig aufgehoben wurde, führt das in Art. 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 73 der VO Nr. 987/2009 geregelte Verfahren nicht dazu, dass der ausländische Leistungsträger zum weiteren Schuldner des Erstattungsanspruchs nach § 37 Abs. 2 AO wird oder für diesen haftet. Denn die in Art. 6, Art. 60, Art. 73 der VO Nr. 987/2009 und Art. 68 der VO Nr. 883/2004 aufgenommenen Regelungen berühren nicht unmittelbar die Rechtsbeziehungen zwischen dem Leistungsempfänger, der ohne rechtlichen Grund eine Leistung erhalten hat, und dem Vergütungsgläubiger. Der Rückforderung steht auch nicht entgegen, dass die Anspruchsberechtigte möglicherweise keine Kenntnis von einem Anspruch auf ausländische Familienleistungen hatte.

§ 37 Abs. 2 AO setzt kein Verschulden auf Seiten des Leistungsempfängers voraus. Der Rückzahlungsanspruch besteht vielmehr auch dann, wenn den Leistungsempfänger an der Fehlleistung kein Verschulden trifft oder wenn er diese nicht einmal erkannt hat.

Einer Rückforderung stand im Streitfall auch nicht der Gesichtspunkt von Treu und Glauben oder der Verwirkungsgedanke entgegen.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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