25.08.2020

Rückforderung von zu Unrecht gezahltem Kindergeld bei länderübergreifendem Sachverhalt

Bei der Rückforderung von zu Unrecht gezahltem Kindergeld ergibt sich bei länderübergreifenden Sachverhalten eine Anspruchskonkurrenz des Anspruchs nach den den europarechtlichen Regelungen mit dem Rückforderungsanspruch nach den nationalen Vorschriften. Der Rückzahlungsanspruch der Familienkasse ggü. dem Empfänger des Kindergeldes nach nationalen Vorschriften und der europarechtliche Erstattungsanspruch ggü. dem ausländischer Träger von Familienleistungen (hier Schweden) begründen eine Gesamtschuldnerschaft. Die Familienkasse muss daher eine Ermessensentscheidung treffen, welchen Schuldner sie in Anspruch nehmen will.

Niedersächsisches FG v. 26.5.2020 - 6 K 263/18
Der Sachverhalt:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob sich unter Anwendung der europarechtlichen Verordnungen Nr. 883/2004 (VO), Nr. 987/2009 (DVO) als überstaatliche Vorschriften eine Anspruchskonkurrenz ergibt, die einem inländischen Anspruch der Klägerin entgegensteht. Ferner ist streitig, ob möglicherweise zu Unrecht gezahltes Kindergeld von der Klägerin zurückgefordert werden kann.

Die Klägerin hat ihren Wohnsitz im Inland. Sie ist schwedische Staatsangehörige und Mutter von zwei in ihrem Haushalt lebenden minderjährigen Kindern. Sie hat das alleinige Sorgerecht für die Kinder. Der von der Klägerin geschiedene Kindesvater lebt in Schweden und übt dort seit Januar 2017 eine Erwerbstätigkeit aus. Die Klägerin ist nicht erwerbstätig und bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes.

Die Familienkasse zahlte für die Kinder zunächst laufend Kindergeld. Nach Kenntniserlangung über die Erwerbstätigkeit des Kindesvaters hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Januar bis Juli 2017 teilweise auf. Sie führte aus, deutsches Kindergeld sei ggü. den schwedischen Leistungen nachrangig; für den genannten Zeitraum bestehe nur noch ein Anspruch i.H.d. Unterschiedsbetrages. Den bereits überzahlten Betrag in Höhe von ca. 1.500 € forderte die Familienkasse von der Klägerin zurück.

Den dagegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse zurück. Das Niedersächsische FG hat nun der dagegen gerichteten Klage teilweise stattgegeben. Die Revision wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen und ist beim BFH anhängig unter dem Az: III R 26/20.

Die Gründe:
Der angefochtene Bescheid sowie die Einspruchsentscheidung sind insoweit rechtmäßig, als sie die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung zum Gegenstand haben. Soweit das Kindergeld zurückgefordert wird, ist die Entscheidung rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Die Beklagte hat die Kindergeldfestsetzung zutreffend für den Zeitraum vom Januar bis Juli 2017 gem. § 70 Abs. 2 EStG zum Teil aufgehoben und Kindergeld nur i.H.d Differenzbetrages monatlich festgesetzt.

Nach § 70 Abs. 2 EStG ist die Festsetzung des Kindergeldes mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben oder zu ändern, soweit in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, Änderungen eintreten.

Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor, denn mit der Erwerbstätigkeit des in Schweden lebenden Kindesvaters ab Januar 2017 ist eine für den Kindergeldanspruch erhebliche Änderung der Verhältnisse eingetreten. Zwar erfüllt die Klägerin nach nationalem Recht ihrerseits die Anspruchsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG. Nach den europarechtlichen Vorschriften steht dieser Anspruch jedoch in Anspruchskonkurrenz zu einem vorrangigen Kindergeldanspruch in Schweden.

Die Klägerin ist schwedische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Deutschland und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S.d. Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.

Nach den Regelungen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (VO) und der dazu ergangenen Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009 (DVO) ist der Anspruch auf Familienleistungen ggü. dem schwedischen Träger wegen der Erwerbstätigkeit des Kindesvaters vorrangig (Art. 67, 68 Abs. 1 Buchstabe 1, Abs. 2 VO). Dabei ist bei der Anwendung der Art. 67 und 68 VO die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschrift des schwedischen Staates fallen und dort wohnen (Art. 60 DVO). Der Begriff der "beteiligten Personen" i.S.d. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist im Hinblick auf das Kindergeld nach dem EStG nach Art. 1 Buchstabe i Nr. 1 Buchstabe i zu bestimmen. Zu dem "beteiligten Personen" gehören die nach dem nationalen Recht Anspruchsbeteiligten und damit auch ein Elternteil, der - wie im Streitfall - vom anderen Elternteil geschieden ist. Weitere Voraussetzung für den Anspruch auf Familienleistungen in Schweden ist lediglich das Sorgerecht für die minderjährigen Kinder, das der Klägerin zusteht. Daraus folgt der Anspruch der Klägerin ggü. dem schwedischen Träger, so dass deutsches Kindergeld nur i.H.d. eines Differenzbetrages zu gewähren ist.

Die Beklagte hat den überzahlten Betrag jedoch rechtswidrig von der Klägerin zurückgefordert. Nach § 37 Abs. 2 AO ergibt sich ein Erstattungsanspruch ggü. dem Leistungsempfänger, wenn u.a. eine Steuervergütung - wie das Kindergeld - ohne rechtlichen Grund gezahlt worden ist. Dies gilt nach Satz 2 der Vorschrift auch dann, wenn der rechtliche Grund für die Zahlung später wegfällt. Im Streitfall ist der rechtliche Grund für die Zahlung eines Teilbetrages des Kindergeldes durch die geänderte Festsetzung aufgrund des Änderungsbescheides weggefallen, so dass der Erstattungsanspruch der Familienkasse gegeben ist.

Zugleich besteht ein Erstattungsanspruch der Familienkasse ggü. dem Träger schwedischer Familienleistungen nach europarechtlichen Vorgaben. Da - wie oben ausgeführt - der Anspruch auf Familienleistungen ggü. dem schwedischen Träger vorrangig ist, kann die deutsche Familienkasse nach Art. 84 VO, Art 72 DVO den schwedischen Träger um Einbehaltung und Erstattung des fraglichen, vom deutschen Träger nicht geschuldeten Kindergeldbetrages ersuchen. Die Vorschriften stellen bereits nach ihrem Wortlaut auf "nicht geschuldete" Familienleistungen ab und setzen mithin die Aufhebung oder Änderung einer Kindergeldfestsetzung voraus, da die Beträge nur in diesen Fällen "nicht geschuldet" sind. Die Vorschriften können daher einer Aufhebung nicht entgegenstehen.

In Bezug auf die Rückforderung des gezahlten Betrages folgt aus der Existenz eines Erstattungsanspruchs im zwischenstaatlichen Bereich jedoch eine Auswahlmöglichkeit der Beklagten, welchen Schuldner sie in Anspruch nehmen will. Mangels entgegenstehender Regelungen sowohl in den nationalen als auch den europarechtlichen Vorschriften bestehen die Ansprüche kumulativ nebeneinander und begründen eine Gesamtschuldnerschaft i.S.d. § 44 AO. Unabhängig von der Frage, ob die Vorschriften der Abgabenordnung - speziell § 44 AO - auch für den schwedischen Träger anwendbar wären, ist jedenfalls die Beklagte an das nationale Verfahrensrecht gebunden. Die Beklagte hat daher darüber zu entscheiden, ob sie den in Frage kommenden Schuldner überhaupt in Anspruch nehmen will und ggf. welchen bzw. welche von mehreren Verantwortlichen sie in Anspruch nehmen will.

Die Entscheidung der Familienkasse über die Auswahl des Schuldners ist eine Ermessensentscheidung und nach § 102 FGO gerichtlich darauf zu überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (vgl. § 5 AO). Aus dem Begründungsgebot des § 121 AO ergibt sich, dass die Familienkasse die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe darstellen muss. Hierbei müssen die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen - die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Schuldners - aus der Entscheidung selbst erkennbar sein.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erweist sich die Entscheidung der Beklagten als ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig. Die Beklagte hat das ihr zustehenden Ermessen nicht erkannt, so dass ein Ermessensfehler in Form der Ermessensunterschreitung vorliegt. Die Beklagte hat weder im Änderungsbescheid noch in der Einspruchsentscheidung Ausführungen dazu gemacht, dass auch ein Erstattungsanspruch ggü. dem schwedischen Träger gegeben ist. Vielmehr hat sie die Entscheidung allein auf die nationalen Vorschriften der §§ 70 Abs. 2 EStG, 37 Abs. 2 AO gestützt.

Zur Überzeugung des erkennenden Senates ist das Ermessen im vorliegenden Fall zudem dahingehend auf Null reduziert, dass die Familienkasse nur den schwedischen Träger in Anspruch nehmen durfte. Zwar ist es nach der Rechtsprechung des BFH in Haftungsfällen regelmäßig ermessensgerecht, einen inländischen Schuldner ggü. ausländischen Schuldnern vorrangig in Anspruch zu nehmen; dies lässt sich jedoch nicht auf den hier vorliegenden Fall übertragen. Die besonderen Umstände des Einzelfalls führen vielmehr dazu, dass eine Auswahl der Klägerin (bei Ausübung eines Auswahlermessens) ermessensfehlerhaft wäre. Bei der Ermessensentscheidung ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihrerseits kein Verschulden trifft und ihr dem Grunde nach ein Anspruch auf Familienleistungen für zwei Kinder zusteht. Sie steht nicht in Kontakt mit dem Kindesvater, dessen Erwerbstätigkeit den vorrangigen Anspruch in Schweden ausgelöst hat. Mithin hatte sie keine Möglichkeit, die inländische Familienkasse über die Erwerbstätigkeit zeitnah zu informieren und hat die Überzahlung nicht durch ein Fehlverhalten veranlasst. Der Senat ist zudem überzeugt, dass die Klägerin faktisch keine Möglichkeit hat, ihrerseits den Anspruch in Schweden durchzusetzen. Die Klägerin ist bedürftig und auf Prozesskostenhilfe angewiesen. Ferner hat sich der schwedische Träger bereits ggü. der deutschen Familienkasse nicht zahlungswillig gezeigt. Unter diesen Umständen ist es nicht ermessensgerecht, die Klägerin auf einen - faktisch nicht realisierbaren Anspruch - hinzuweisen und das Kindergeld zurückzufordern.
Niedersächsisches FG online
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