16.06.2021

Sachliche Unzuständigkeit des sog. regionalen Inkassoservice im Bereich des steuerlichen Kindergeldes

§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG räumt dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit nur die Befugnis ein, innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten abweichend von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden einer anderen Familienkasse zu übertragen. Für die örtliche Zuständigkeit gilt der Grundsatz der Gesamtzuständigkeit, d.h. die Zuständigkeit umfasst grundsätzlich alle Verwaltungstätigkeiten der Finanzbehörde, die sich aus dem gesamten Besteuerungsverfahren ergeben (Festsetzung, Rechtsbehelfsverfahren, Erhebung und Vollstreckung). Eine abweichende Regelung über die örtliche Zuständigkeit setzt daher eine Übertragung der Gesamtzuständigkeit für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten voraus.

BFH v. 25.2.2021 - III R 36/19
Der Sachverhalt:
Der Kläger bezog bis Januar 2017 Kindergeld für seine Tochter J. J befand sich nach der Geburt ihres Kindes seit August 2014 in Elternzeit. Nachdem die Familienkasse NRW D hiervon Kenntnis erhalten hatte, hob sie die Kindergeldfestsetzung gegenüber dem Kläger durch Bescheid vom 10.3.2017 ab September 2014 auf und forderte das für September 2014 bis Januar 2017 gezahlte Kindergeld i.H.v. rd. 5.500 € vom Kläger zurück. Der Kläger legte gegen diesen Bescheid Einspruch ein, über den die Familienkasse NRW D noch nicht entschieden hat.

Die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Z Inkasso-Service Familienkasse erklärte sich mit Schreiben vom 10.1.2018 mit einer Rückzahlung des Erstattungsanspruchs nebst Säumniszuschlägen in Raten einverstanden. Da der Kläger die Ratenzahlungsvereinbarung ab März 2018 nicht mehr einhielt, forderte die Agentur für Arbeit Z Inkasso-Service Familienkasse den Kläger durch Schreiben vom 14.3.2018 auf, die Rate für diesen Monat bis zum 28.3.2018 zu zahlen. Mangels termingerechter Zahlung dieser Rate mahnte sie mit Schreiben vom 4.4.2018 die gesamte offene Forderung zur Zahlung bis zum 18.4.2018 an und drohte - weil der Kläger auch bis dahin keine Zahlungen geleistet hatte - die Vollstreckung für den Fall an, dass der Rückstand i.H.v. rd. 5.700 € nicht bis zum 8.5.2018 ausgeglichen werde.

Mit E-Mail vom 23.4.2018 bat der Kläger im Hinblick auf seine angespannte finanzielle Lage um Aussetzung der angedrohten Vollstreckung und kündigte an, sich um weitere Ratenzahlungen zu bemühen. Die Agentur für Arbeit Z Inkasso-Service Familienkasse legte diesen Antrag als Stundungsbegehren aus. Der Aufforderung, weitere Angaben zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen zu machen, kam der Kläger nach. Die Agentur für Arbeit Z Inkasso-Service Familienkasse lehnte den Antrag ab. Zur Begründung verwies sie darauf, dass die Rückforderung auf einer vom Kläger zu vertretenden Verletzung seiner Mitwirkungspflicht beruhe und deshalb von mangelnder Stundungswürdigkeit auszugehen sei. Nach der beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung war ein Einspruch gegen diesen Bescheid bei der Familienkasse NRW A einzulegen. Den gegen diese Stundungsablehnung und an die Agentur für Arbeit Z Inkasso-Service Familienkasse gerichteten Einspruch wies die Familienkasse NRW A als unbegründet zurück.

Die daraufhin gegen die Familienkasse NRW A gerichtete Klage legte das FG dahingehend aus, dass sie sich gegen die Behörde, die den beantragten Verwaltungsakt abgelehnt habe, und somit gegen die Agentur für Arbeit Z Inkasso-Service Familienkasse richte. Das FG gab der Klage insoweit statt, als der Kläger die Aufhebung des Ablehnungsbescheids begehrte. Soweit der Kläger darüber hinaus die Verpflichtung der Agentur für Arbeit Z Inkasso-Service Familienkasse zur Gewährung der beantragten Stundung begehrte, wies das FG die Klage als unbegründet ab. Die Revision der Familienkasse NRW A hatte vor dem BFH keinen Erfolg.

Die Gründe:
Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass sich die Klage gegen die Agentur für Arbeit Z Inkasso-Service Familienkasse richtet und die Ablehnung der Stundung sowie die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung von sachlich unzuständigen Behörden erlassen wurde.

Die Klageschrift ist eine Prozesshandlung, für die die Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB gelten. Im Streitfall konnte der Kläger eine zulässige Klage erheben und die Klage gegen die richtige, passiv prozessführungsbefugte Behörde, die Agentur für Arbeit Z Inkasso-Service Familienkasse, richten. Es lag auch kein Fall des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO vor. Die Vorschrift erfordert einen Wechsel der örtlichen Zuständigkeit (z.B. durch Wohnsitzwechsel) vor Erlass der Einspruchsentscheidung. Im Streitfall trat jedoch weder ein Wechsel in der örtlichen noch in der sachlichen Zuständigkeit bei der Ausgangsbehörde ein. Vielmehr hatten die Ausgangsentscheidung und die Rechtsbehelfsentscheidung von vorneherein verschiedene Behörden getroffen. In Fällen, in denen --ohne dass ein Zuständigkeitswechsel i.S.d. § 63 Abs. 2 FGO stattgefunden hat - die Einspruchsentscheidung von einer anderen Behörde erlassen wird, ist die Ausgangsbehörde - d.h. die Behörde, die den Rechtsbehelf "veranlasst" hat - passiv prozessführungsbefugt. Hier ist das FG zu Recht davon ausgegangen, dass die Klage gegen die Ausgangsbehörde zu richten und daher die Agentur für Arbeit Z Inkasso-Service Familienkasse als richtige Beklagte zu erfassen ist.

Nach § 222 Satz 1 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder teilweise stunden, wenn die Einziehung bei Fälligkeit eine erhebliche Härte für den Schuldner bedeuten würde und der Anspruch durch die Stundung nicht gefährdet erscheint. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Stundung bestimmt sich nach der Verwaltungshoheit, welche sowohl die im Festsetzungsverfahren als auch die im Erhebungsverfahren zu treffenden Entscheidungen umfasst. Die sachliche Zuständigkeit der Finanzbehörden richtet sich gem. § 16 AO, soweit nichts anderes bestimmt ist, nach den einschlägigen Regelungen des FVG. Insoweit sieht § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 FVG in der im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids geltenden Fassung vor, dass dem Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) die Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach Maßgabe der §§ 31, 62 bis 78 EStG obliegt. Die Bundesagentur für Arbeit stellt dem BZSt zur Durchführung dieser Aufgaben ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung. Der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit kann innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs abweichend von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen. Entsprechend bestimmt § 6 Abs. 2 Nr. 6 AO, dass auch die Familienkassen Finanzbehörden i.S.d. AO sind.

Die sachliche Zuständigkeit muss wegen des Vorbehalts des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) und als wesentliche Regelung des Verwaltungsverfahrens in einem grundrechtlich geschützten Bereich - wie er im Fall des Familienleistungsausgleichs vorliegt - durch Gesetz i.S.d. § 4 AO geregelt werden. Demgegenüber ergibt sich aus den Regelungen über die örtliche Zuständigkeit, welche von mehreren sachlich zuständigen Behörden der gleichen hierarchischen Stufe eines Verwaltungsträgers die Verwaltungstätigkeit durchzuführen hat. Die örtliche Zuständigkeit ist die Kompetenz, in einem räumlich begrenzten Wirkungsbereich (Bezirk) tätig werden zu dürfen und zu müssen, wobei sich die konkret örtlich zuständige Finanzbehörde erst anhand der Regelungen über den Sitz und den Bezirk der jeweiligen Finanzbehörde feststellen lässt. Zwar sieht § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 2 FVG vor, dass die Bundesagentur für Arbeit dem BZSt zur Durchführung der diesem obliegenden Aufgaben des Familienleistungsausgleichs ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung stellt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jede Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit zugleich eine Familienkasse darstellt. Im Streitfall mangelte es jedenfalls auch an einer Regelung, die der Agentur für Arbeit Z eine sachliche Zuständigkeit für Inkassoangelegenheiten zuweist.

Da somit für Kindergeldangelegenheiten im Allgemeinen mehrere sachlich zuständige Behörden gleicher hierarchischer Stufe vorhanden waren, bestimmen die Regelungen über die örtliche Zuständigkeit, welche die für den Anspruchsberechtigten im Speziellen zuständige Familienkasse ist. Örtlich zuständig ist grundsätzlich die Familienkasse, in deren Bezirk der Kindergeldberechtigte seinen Wohnsitz hat (§ 19 Abs. 1 Satz 1 AO). Im Fall des Klägers, der seinen Wohnsitz im Bezirk der Agentur für Arbeit S hatte, war dies die Familienkasse NRW D in M. Aufgrund des Grundsatzes der Gesamtzuständigkeit umfasste die Zuständigkeit der Familienkasse NRW D nicht nur die Zuständigkeit für die Festsetzung des Kindergeldes, sondern u.a. auch für Entscheidungen im Rahmen des Erhebungsverfahrens für die Entscheidung über eine Stundung nach § 222 AO. Daraus folgt zugleich, dass andere Familienkassen für den Kläger sachlich und örtlich unzuständig waren. Die sachliche Zuständigkeit für die Durchführung des Familienleistungsausgleichs ist - soweit es nicht um Kindergeldverfahren für Angehörige des öffentlichen Dienstes nach § 72 EStG geht - in § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 FVG geregelt. Eine Ermächtigung für die abweichende Regelung der sachlichen Zuständigkeit der bei den Dienststellen der Bundesagentur für Arbeit errichteten Familienkassen ergibt sich daraus nicht.

Der Verstoß gegen die Regelungen über die sachliche Zuständigkeit führt nicht zur Nichtigkeit der betreffenden Verwaltungsakte nach § 125 Abs. 1 AO. Der Aufhebung der angegriffenen Verwaltungsakte stand auch § 127 AO nicht entgegen. Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 125 AO nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Die Vorschrift erwähnt nur die Verletzung der Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit, nicht dagegen den Verstoß gegen die Regelungen über die sachliche Zuständigkeit. Die Regelungen über die sachliche Zuständigkeit fallen auch nicht unter die in § 127 AO genannten Verfahrensvorschriften.

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