30.11.2011

Sofortige Steuereinziehung zum Zeitpunkt der Sitzverlegung einer Gesellschaft ist unverhältnismäßig

Das Unionsrecht steht zwar grundsätzlich der Besteuerung der nicht realisierten Wertzuwächse beim Vermögen einer Gesellschaft anlässlich der Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat nicht entgegen. Die sofortige Einziehung der Steuer zum Zeitpunkt der Verlegung des Sitzes, ohne der Gesellschaft die Möglichkeit zu bieten, die Zahlung des Steuerbetrags aufzuschieben, ist jedoch mit dem Unionsrecht unvereinbar.

EuGH 29.11.2011, C-371/10
Sachverhalt:
Klägerin ist die nach niederländischem Recht gegründete Gesellschaft National Grid Indus BV. Sie hatte zunächst ihren Verwaltungssitz in den Niederlanden. Seit 1996 ist sie Inhaberin einer Forderung in Pfund Sterling gegen die National Grid Company plc, eine im Vereinigten Königreich niedergelassene Gesellschaft. Nach einer Steigerung des Kurses des Pfund Sterling gegenüber dem niederländischen Gulden war ein nicht realisierter Kursgewinn bei dieser Forderung entstanden.

Im Dezember 2000 verlegte Klägerin ihren Verwaltungssitz in das Vereinigte Königreich. Nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung musste sie ab der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes als im Vereinigten Königreich ansässig betrachtet werden. Somit erzielte die Klägerin fortan in den Niederlanden keine steuerpflichtigen Gewinne mehr. Infolgedessen erstellten die beklagten niederländischen Steuerbehörden nach einer niederländischen Vorschrift eine Schlussrechnung über die latenten Wertzuwächse, die zum Zeitpunkt der Verlegung des Sitzes dieses Unternehmens bestanden, und verlangten sofortige Zahlung.

Die Klägerin wandte sich gegen diese Entscheidung und machte geltend, dass sie gegen den Grundsatz der Niederlassungsfreiheit verstoße. Der Gerechtshof Amsterdam beschloss, diese Frage dem EuGH vorzulegen. Dieser sah eine Unverhältnismäßigkeit.

Gründe:
Die sofortige Einziehung der Steuer zum Zeitpunkt der Verlegung des Sitzes der Gesellschaft, ohne der Gesellschaft die Möglichkeit zu bieten, die Zahlung des Steuerbetrags aufzuschieben, ist mit dem Unionsrecht unvereinbar.

Bei einer Gesellschaft nach niederländischem Recht, die ihren Verwaltungssitz aus den Niederlanden wegverlegen will, erfolgt im Gegensatz zu einer ähnlichen Gesellschaft, die ihren Sitz innerhalb des niederländischen Hoheitsgebiets verlegt, die Besteuerung der nicht realisierten Wertzuwächse sofort. Diese unterschiedliche Behandlung ist geeignet, eine Gesellschaft davon abzuhalten, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, und stellt somit eine nach den Bestimmungen des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit grundsätzlich verbotene Beschränkung dar.

Dennoch bleiben die Mitgliedstaaten in Ermangelung von unionsrechtlichen Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen befugt, insbesondere zur Beseitigung der Doppelbesteuerung die Kriterien für die Aufteilung ihrer Steuerhoheit vertraglich oder einseitig festzulegen. Die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer Gesellschaft eines Mitgliedstaats in einen anderen Mitgliedstaat kann auch nicht bedeuten, dass der Herkunftsmitgliedstaat auf sein Recht zur Besteuerung eines Wertzuwachses, der unter seiner Steuerhoheit vor dieser Verlegung erzielt wurde, verzichten muss. Daher ist die streitige Regelung durchaus geeignet, die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

Die Regelung im vorliegenden Fall ist allerdings hinsichtlich der sofortigen Einziehung der Steuer auf die nicht realisierten Wertzuwächse zum Zeitpunkt der Verlegung des Sitzes unverhältnismäßig. Denn eine nationale Regelung, die einer Gesellschaft in solch einem Fall die Wahl lässt zwischen einerseits der sofortigen Zahlung des Steuerbetrags und andererseits einer Aufschiebung der Zahlung dieses Steuerbetrags, gegebenenfalls zuzüglich Zinsen entsprechend der geltenden nationalen Regelung, würde eine Maßnahme darstellen, die die Niederlassungsfreiheit weniger stark beeinträchtigt als die streitige Maßnahme. Wenn eine Gesellschaft meint, dass der Verwaltungsaufwand im Zusammenhang mit der aufgeschobenen Einziehung übermäßig ist, könnte sie sich somit für die sofortige Zahlung der Steuer entscheiden.

Linkhinweis:

Für das auf den Webseiten des EuGH veröffentlichte Urteil klicken Sie bitte hier.

EuGH PM v. 29.11.2011
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