Steuerbarkeit einer als "Verdienstausfall" bezeichneten Versicherungsleistung bei einem 12-jährigen Verkehrsunfallopfer
BFH v. 26.5.2020 - IX R 15/19
Der Sachverhalt:
Die im Jahr 1991 geborene Klägerin war im Jahr 2003 Opfer eines schweren Autounfalls in der Schweiz geworden und leidet seitdem unter irreversiblen körperlichen und geistigen Folgeschäden (Grad der Behinderung 100 %; Merkzeichen G, H); aufgrund ihrer Schädigung ist sie zeitlebens nicht in der Lage, eine Ausbildung zu beginnen oder Arbeitseinkommen zu erzielen. Nach langjährigen juristischen Auseinandersetzungen leistete die Versicherungsgesellschaft des Schädigers im Streitjahr 2015 u.a. eine als "Verdienstausfall" bezeichnete Zahlung von 695.094 €, die die Klägerin in ihrer Einkommensteuererklärung als steuerpflichtige Einnahme i.S.d. §§ 19, 24 Nr. 1 Buchst. a EStG auswies; in diesem Zusammenhang machte sie Rechtsanwaltskosten i.H.v. 57.110 € als Werbungskosten geltend.
Das FA unterwarf die als "Verdienstausfall" bezeichnete Versicherungsleistung nach § 34 Abs. 1 EStG der ermäßigten Besteuerung. Hiergegen machte die Klägerin nachfolgend geltend, dass die Versicherungsentschädigung nicht steuerbar sei. Das FG wies die Klage ab. Auf die Revision der Klägerin hob der BFH das Urteil auf und gab der Klage statt.
Gründe:
Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die der Klägerin im Streitjahr zugeflossene Versicherungsleistung steuerbar ist. Die von der Klägerin getragenen Rechtsanwaltskosten sind als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen.
Bei den Einnahmen, deren Ausfall ersetzt werden soll, muss es sich um steuerbare und steuerpflichtige Einnahmen handeln; sie müssen - hypothetisch, aber auch eindeutig - einer bestimmten Einkunftsart (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 7 EStG) unterfallen. Denn § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG schafft keine eigene Einkunftsart; Leistungen, die nicht steuerbare oder steuerfreie Einnahmen ersetzen sollen, sind auch nicht nach § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG steuerbar. Kommen mehrere Einkunftsarten in Betracht oder kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Entschädigung auch als Ersatz für entgangene nicht steuerbare oder steuerfreie Einnahmen gewährt worden sein könnte, ist die Vorschrift nicht anwendbar.
Im Streitfall bestand kein kausaler Zusammenhang zwischen Entschädigung (nach eidgenössischem Recht) und entgangenen steuerbaren Einnahmen aus einer bestimmten Einkunftsart. Steht einem im Kindesalter geschädigten Steuerpflichtigen nach dem insoweit einschlägigen (nationalen) Schadenersatzrecht auch der Ersatz eines solchen (abstrakten) Erwerbs- und Fortkommensschadens zu --etwa weil ohne konkrete Anhaltspunkte nicht davon ausgegangen werden kann, dass ein junger Mensch auf Dauer seine Möglichkeiten, gewinnbringend tätig zu sein, nicht nutzen und ohne Einkünfte bleiben wird und wird damit im Ergebnis lediglich eine dem Geschädigten entzogene Chance, sich ein Erwerbsleben aufzubauen, im Wege der Schadensregulierung entgolten kann aus einem im Rahmen dieser Regulierung erforderlichen prognostizierten Verlauf eines rein hypothetischen Erwerbslebens grundsätzlich weder auf eine bestimmte Einkunftsart (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 7 EStG) noch auf die Steuerbarkeit der hierbei lediglich abstrakt unterstellten Einkünfte geschlossen werden. Es fehlt insoweit schon an einer bestimmten (d.h. möglichen) Einkunfts- bzw. Erwerbsquelle der Steuerpflichtigen und mithin auch an der erforderlichen kausalen Verknüpfung zwischen Entschädigung und entgangenen steuerbaren Einnahmen.
Diese Grundsätze waren auch auf die hier nach ausländischem Recht gewährte Entschädigung entsprechend anzuwenden. Die im Schädigungszeitpunkt 12 Jahre alte Klägerin stand in keinem Arbeitsverhältnis; sie hatte altersbedingt auch weder ein Ausbildungs- noch ein Arbeits- oder irgendwie geartetes Erwerbsverhältnis angestrebt. Nicht feststellen konnte das FG demgegenüber, dass sich die Beteiligten im Rahmen der Schadensregulierung auf den Ersatz eines der Klägerin durch die mögliche Festsetzung von Steuern auf die Ersatzleistung entstehenden Steuernachteils geeinigt hätten. Vor diesem Hintergrund können die Vereinbarungen der an der Schadensregulierung Beteiligten - trotz der Bezeichnung der der Steuerpflichtigen gewährten Versicherungsleistung als "Verdienstausfall" - nicht schlüssig dahin gedeutet werden, dass damit Ersatz für steuerbare inländische Einnahmen aus einer konkreten - d.h. bestimmten oder jedenfalls hinreichend bestimmbaren - Einkunftsquelle (i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 7 EStG) gezahlt werden sollte.
Vielmehr stellt der der Klägerin zugeflossene, für eine rein hypothetische Erwerbstätigkeit gezahlte "Verdienstausfall" lediglich Ersatz für die der Steuerpflichtigen genommene Möglichkeit, sich überhaupt für ein Erwerbsleben zu entscheiden oder ein solches anzustreben, dar. Es fehlt hiernach an der nach § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG erforderlichen kausalen Verknüpfung zwischen der nach Schweizer Recht gewährten Entschädigung und entgangenen steuerbaren Einnahmen.
Die von der Klägerin für ihre anwaltliche Vertretung aufgewendeten Kosten in Höhe von 57.110 € sind als außergewöhnliche Belastung i.S.d. § 33 EStG zu berücksichtigen. Denn nach den Feststellungen des FG ist die unter irreversiblen geistigen und körperlichen Folgeschäden leidende Steuerpflichtige zeitlebens auf fremde Hilfe angewiesen. Der mit der Versicherungsgesellschaft ausgehandelte Vergleich diente in diesem Zusammenhang dazu, die Kosten dieser notwendigen Hilfe und damit die weitere Existenz der Steuerpflichtigen wirtschaftlich abzusichern.
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Die im Jahr 1991 geborene Klägerin war im Jahr 2003 Opfer eines schweren Autounfalls in der Schweiz geworden und leidet seitdem unter irreversiblen körperlichen und geistigen Folgeschäden (Grad der Behinderung 100 %; Merkzeichen G, H); aufgrund ihrer Schädigung ist sie zeitlebens nicht in der Lage, eine Ausbildung zu beginnen oder Arbeitseinkommen zu erzielen. Nach langjährigen juristischen Auseinandersetzungen leistete die Versicherungsgesellschaft des Schädigers im Streitjahr 2015 u.a. eine als "Verdienstausfall" bezeichnete Zahlung von 695.094 €, die die Klägerin in ihrer Einkommensteuererklärung als steuerpflichtige Einnahme i.S.d. §§ 19, 24 Nr. 1 Buchst. a EStG auswies; in diesem Zusammenhang machte sie Rechtsanwaltskosten i.H.v. 57.110 € als Werbungskosten geltend.
Das FA unterwarf die als "Verdienstausfall" bezeichnete Versicherungsleistung nach § 34 Abs. 1 EStG der ermäßigten Besteuerung. Hiergegen machte die Klägerin nachfolgend geltend, dass die Versicherungsentschädigung nicht steuerbar sei. Das FG wies die Klage ab. Auf die Revision der Klägerin hob der BFH das Urteil auf und gab der Klage statt.
Gründe:
Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die der Klägerin im Streitjahr zugeflossene Versicherungsleistung steuerbar ist. Die von der Klägerin getragenen Rechtsanwaltskosten sind als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen.
Bei den Einnahmen, deren Ausfall ersetzt werden soll, muss es sich um steuerbare und steuerpflichtige Einnahmen handeln; sie müssen - hypothetisch, aber auch eindeutig - einer bestimmten Einkunftsart (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 7 EStG) unterfallen. Denn § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG schafft keine eigene Einkunftsart; Leistungen, die nicht steuerbare oder steuerfreie Einnahmen ersetzen sollen, sind auch nicht nach § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG steuerbar. Kommen mehrere Einkunftsarten in Betracht oder kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Entschädigung auch als Ersatz für entgangene nicht steuerbare oder steuerfreie Einnahmen gewährt worden sein könnte, ist die Vorschrift nicht anwendbar.
Im Streitfall bestand kein kausaler Zusammenhang zwischen Entschädigung (nach eidgenössischem Recht) und entgangenen steuerbaren Einnahmen aus einer bestimmten Einkunftsart. Steht einem im Kindesalter geschädigten Steuerpflichtigen nach dem insoweit einschlägigen (nationalen) Schadenersatzrecht auch der Ersatz eines solchen (abstrakten) Erwerbs- und Fortkommensschadens zu --etwa weil ohne konkrete Anhaltspunkte nicht davon ausgegangen werden kann, dass ein junger Mensch auf Dauer seine Möglichkeiten, gewinnbringend tätig zu sein, nicht nutzen und ohne Einkünfte bleiben wird und wird damit im Ergebnis lediglich eine dem Geschädigten entzogene Chance, sich ein Erwerbsleben aufzubauen, im Wege der Schadensregulierung entgolten kann aus einem im Rahmen dieser Regulierung erforderlichen prognostizierten Verlauf eines rein hypothetischen Erwerbslebens grundsätzlich weder auf eine bestimmte Einkunftsart (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 7 EStG) noch auf die Steuerbarkeit der hierbei lediglich abstrakt unterstellten Einkünfte geschlossen werden. Es fehlt insoweit schon an einer bestimmten (d.h. möglichen) Einkunfts- bzw. Erwerbsquelle der Steuerpflichtigen und mithin auch an der erforderlichen kausalen Verknüpfung zwischen Entschädigung und entgangenen steuerbaren Einnahmen.
Diese Grundsätze waren auch auf die hier nach ausländischem Recht gewährte Entschädigung entsprechend anzuwenden. Die im Schädigungszeitpunkt 12 Jahre alte Klägerin stand in keinem Arbeitsverhältnis; sie hatte altersbedingt auch weder ein Ausbildungs- noch ein Arbeits- oder irgendwie geartetes Erwerbsverhältnis angestrebt. Nicht feststellen konnte das FG demgegenüber, dass sich die Beteiligten im Rahmen der Schadensregulierung auf den Ersatz eines der Klägerin durch die mögliche Festsetzung von Steuern auf die Ersatzleistung entstehenden Steuernachteils geeinigt hätten. Vor diesem Hintergrund können die Vereinbarungen der an der Schadensregulierung Beteiligten - trotz der Bezeichnung der der Steuerpflichtigen gewährten Versicherungsleistung als "Verdienstausfall" - nicht schlüssig dahin gedeutet werden, dass damit Ersatz für steuerbare inländische Einnahmen aus einer konkreten - d.h. bestimmten oder jedenfalls hinreichend bestimmbaren - Einkunftsquelle (i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 7 EStG) gezahlt werden sollte.
Vielmehr stellt der der Klägerin zugeflossene, für eine rein hypothetische Erwerbstätigkeit gezahlte "Verdienstausfall" lediglich Ersatz für die der Steuerpflichtigen genommene Möglichkeit, sich überhaupt für ein Erwerbsleben zu entscheiden oder ein solches anzustreben, dar. Es fehlt hiernach an der nach § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG erforderlichen kausalen Verknüpfung zwischen der nach Schweizer Recht gewährten Entschädigung und entgangenen steuerbaren Einnahmen.
Die von der Klägerin für ihre anwaltliche Vertretung aufgewendeten Kosten in Höhe von 57.110 € sind als außergewöhnliche Belastung i.S.d. § 33 EStG zu berücksichtigen. Denn nach den Feststellungen des FG ist die unter irreversiblen geistigen und körperlichen Folgeschäden leidende Steuerpflichtige zeitlebens auf fremde Hilfe angewiesen. Der mit der Versicherungsgesellschaft ausgehandelte Vergleich diente in diesem Zusammenhang dazu, die Kosten dieser notwendigen Hilfe und damit die weitere Existenz der Steuerpflichtigen wirtschaftlich abzusichern.