Unfähigkeit zum Selbstunterhalt muss bei behindertem Kind nicht vor dem 27. Lebensjahr eingetreten sein
BFH 9.6.2011, III R 61/08Die Klägerin beantragte im Juli 2005 für ihren heute 49-jährigen Sohn Kindergeld. Bei diesem hatte das Versorgungsamt im April 1985 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 %, im Oktober 1989 einen Grad der Behinderung von 60 % festgestellt. Merkzeichen wurden nicht vergeben. Später wurde der Sohn noch im Jahr 1989 arbeitsamtsärztlich untersucht. Dabei beurteilte der Gutachter ihn - mit Einschränkungen - als grundsätzlich arbeitsfähig. Es folgten weitere arbeitsamtsärztliche Untersuchungen in den Jahren 1992, 1995, 1996 und 2000.
Der Sohn der Klägerin absolvierte keine Berufsausbildung, stand jedoch zeitweise in verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen. Außerdem erhielt er zeitweise Arbeitslosengeld sowie Arbeitslosenhilfe.
Die Familienkasse lehnte den Antrag auf Kindergeld ab. Das FG wies die hiergegen gerichtete Klage ab. Es war der Ansicht, § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG erfordere nicht nur, dass die Behinderung des Kindes, sondern auch dessen behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt vor Vollendung des 27. Lebensjahres vorgelegen habe. Im Streitfall sei zwar die Behinderung des Sohnes der Klägerin vor diesem Zeitpunkt eingetreten. Er sei aber nicht vor Vollendung des 27. Lebensjahres behinderungsbedingt unfähig zum Selbstunterhalt gewesen, weil seine Arbeitsfähigkeit nur im Hinblick auf bestimmte Tätigkeiten Einschränkungen unterlegen habe.
Auf die Revision der Klägerin hob der BFH das Urteil auf und wies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.
Die Gründe:
Voraussetzung für die Berücksichtigung eines über 27 (bei Behinderungseintritt nach dem 31.12.2006: 25) Jahre alten behinderten Kindes ist nicht, dass neben der Behinderung auch die dadurch bedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt bereits vor Vollendung des 27. (bzw. 25.) Lebensjahres vorgelegen hat.
Zwar ist die Frage, ob nur die Behinderung oder auch die dadurch bedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt vor Vollendung des 27. Lebensjahres vorgelegen haben muss, in Rechtsprechung und Fachschrifttum nicht einheitlich beantwortet. Gerade die bisher zur Streitfrage ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung liefert kein eindeutiges Ergebnis. Doch schließt sich der erkennende Senat der h.M. an, wonach nur die Behinderung, nicht auch die dadurch bedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt vor Erreichen der maßgeblichen Altersgrenze vorgelegen haben muss.
Maßgeblich für diese Auslegung ist der objektivierte Wille des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Gesetzeswortlaut und aus dem Sinnzusammenhang der in Rede stehenden Vorschrift ergibt. So setzt der Wortlaut des angefügten zweiten Halbsatzes des § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG für die Berücksichtigung des Kindes allein den Eintritt der Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres voraus. Er enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass auch noch andere Voraussetzungen als die eben genannte vor Erreichen der maßgeblichen Altersgrenze vorgelegen haben müssen.
Dieses Ergebnis wird vom Gesetzeszweck des § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG bestätigt. Das Verfassungsrecht gebietet, der durch Unterhaltsleistungen für Kinder geminderten Leistungsfähigkeit der Eltern Rechnung zu tragen. Deshalb werden Kinder unter den Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 S. 1 EStG auch nach Volljährigkeit berücksichtigt. Eine verminderte Leistungsfähigkeit der Eltern behinderter Kinder liegt aber auch dann vor, wenn vor Erreichen der maßgeblichen Altersgrenze zunächst nur die Behinderung eingetreten ist, danach jedoch wegen dieser Behinderung die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt hinzutritt.
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