Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt bei einem in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachten Kind
Kurzbesprechung
BFH v. 30.1.2024 - III R 42/22
EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr. 3, § 62 Abs 1, § 63 Abs 1
StGB § 20, § 63
StPO § 126a, §§ 413ff, § 413
Streitig war, ob ein behindertes Kind, das aufgrund seiner Behinderung rechtswidrige Taten ohne Schuld begangen hat und deswegen zunächst einstweilig und im Anschluss aufgrund eines Gerichtsurteils in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht ist, wegen seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
Der BFH bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz, dass das Kind auch während der Zeit, in der die vom AG Hamburg angeordnete (einstweilige) Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vollzogen wurde, als behindertes Kind gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen ist.
Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht ein Anspruch auf Kindergeld für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Weitere Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
Das Tatbestandsmerkmal "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten" ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG erfordert zudem, dass das Kind "wegen" seiner Behinderung außerstande sein muss, sich selbst zu unterhalten.
Die Behinderung muss somit nach den Gesamtumständen des Einzelfalles für die fehlende Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ursächlich sein. Nach ständiger Rechtsprechung besteht für behinderte Kinder, die sich in Strafhaft befinden, kein Anspruch auf Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Gleiches gilt für behinderte Kinder, die wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind.
Begründet wird dies mit der dann insoweit fehlenden Kausalität zwischen der Behinderung und der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt. Soweit andere, die behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt insoweit überholende Ursachen ‑ wie beispielsweise die Inhaftierung oder die Unterbringung im Maßregelvollzug ‑ hinzutreten, sei Kindergeld selbst dann zu versagen, wenn die Begehung der zur Inhaftierung führenden Straftat behinderungsbedingt ist.
Der BFH hat nun herausgestellt, dass die Rechtsprechungsgrundsätze zur Kausalität der Behinderung für die fehlende Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt für die Fälle, in denen ein Strafgericht die Unterbringung des Kindes in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet hat, fortzuentwickeln und zu präzisieren sind.
Die erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt muss daher nicht zwangsläufig entfallen, wenn das Kind aufgrund seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus einer bedarfsdeckenden Erwerbstätigkeit nicht nachgehen kann. Zwar ist das Kind dann letztlich wegen der freiheitsentziehenden Maßnahme nicht mehr in der Lage, sich selbst zu unterhalten. Die erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt kann aber weiterhin fortbestehen.
Ob die Behinderung eine wesentliche Mitursache für die fehlende Fähigkeit zum Selbstunterhalt bleibt oder ob die zwangsweise Unterbringung in einem Krankenhaus oder einer Justizvollzugsanstalt diese Ursache so überlagert, dass die Behinderung im Vergleich dazu nicht mehr als wesentliche Bedingung angesehen werden kann, kann nur anhand der jeweiligen Situation des behinderten Kindes nach den Gesamtumständen des Einzelfalles bewertet werden.
Der Freiheitsentzug selbst ist dabei lediglich eines von mehreren Indizien, die im Rahmen der Gesamtwürdigung zu berücksichtigen sind. Daneben sind aber auch die Umstände festzustellen und zu gewichten, die zu der freiheitsentziehenden Maßnahme geführt haben. Dabei können die Ergebnisse des Strafverfahrens beziehungsweise Sicherungsverfahrens (§§ 413 ff. StPO) herangezogen werden.
Ergibt sich daraus, dass das Kind an einer seelischen Erkrankung leidet, welche zugleich die vor dem 25. Lebensjahr eingetretene Behinderung darstellt, und deswegen eine oder mehrere rechtswidrige Taten begangen hat, für die ihm kein Schuldvorwurf gemacht (§ 20 StGB) und wegen der es daher nicht verurteilt werden kann, so liegt darin ein gewichtiges Indiz für eine fortwirkende erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung.
Die freiheitsentziehende Maßnahme nach § 63 StGB kann nur deshalb angeordnet werden, weil eine länger andauernde Beeinträchtigung der geistigen oder seelischen Gesundheit vorliegt, diese kausal für die Tat war und darüber hinaus die Gefahr besteht, dass der Täter infolge seines Zustands in Zukunft Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird. Der Freiheitsentzug erfolgt nicht zur Ahndung eines vorwerfbaren Verhaltens, sondern aufgrund der krankheitsbedingten Gefährlichkeit des Kindes zum Schutze der Allgemeinheit. In einem solchen Fall stellt die Unterbringung im Maßregelvollzug keinen Fall der überholenden Kausalität dar, der die Behinderung als für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt unbeachtlich erscheinen ließe.
Etwas anderes kann jedoch gelten, wenn die Unterbringung nach § 63 StGB neben einer Verurteilung ausgesprochen wird. Denn eine Freiheitsstrafe dient der Ahndung einer (trotz der Behinderung) vorwerfbar begangenen Tat und hindert das behinderte Kind unabhängig von seinem Handicap (wie ein nicht behindertes Kind) an der Erwerbstätigkeit. Dies gilt auch im Falle einer im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit begangenen Tat. Die Verurteilung aufgrund der vorwerfbaren Tat stellt eine Zäsur dar. Zwar wird der Ursachenzusammenhang zwischen der Behinderung und der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt in diesem Fall nicht vollständig beseitigt. Dies schließt es aber nicht aus, die aufgrund des vorwerfbaren Verhaltens angeordnete freiheitsentziehende Maßnahme im Rahmen der Prüfung der Mitursächlichkeit als die rechtlich allein wesentliche Bedingung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt zu werten.
Verlag Dr. Otto Schmidt
EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr. 3, § 62 Abs 1, § 63 Abs 1
StGB § 20, § 63
StPO § 126a, §§ 413ff, § 413
Streitig war, ob ein behindertes Kind, das aufgrund seiner Behinderung rechtswidrige Taten ohne Schuld begangen hat und deswegen zunächst einstweilig und im Anschluss aufgrund eines Gerichtsurteils in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht ist, wegen seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
Der BFH bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz, dass das Kind auch während der Zeit, in der die vom AG Hamburg angeordnete (einstweilige) Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vollzogen wurde, als behindertes Kind gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen ist.
Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht ein Anspruch auf Kindergeld für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Weitere Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
Das Tatbestandsmerkmal "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten" ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG erfordert zudem, dass das Kind "wegen" seiner Behinderung außerstande sein muss, sich selbst zu unterhalten.
Die Behinderung muss somit nach den Gesamtumständen des Einzelfalles für die fehlende Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ursächlich sein. Nach ständiger Rechtsprechung besteht für behinderte Kinder, die sich in Strafhaft befinden, kein Anspruch auf Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Gleiches gilt für behinderte Kinder, die wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind.
Begründet wird dies mit der dann insoweit fehlenden Kausalität zwischen der Behinderung und der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt. Soweit andere, die behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt insoweit überholende Ursachen ‑ wie beispielsweise die Inhaftierung oder die Unterbringung im Maßregelvollzug ‑ hinzutreten, sei Kindergeld selbst dann zu versagen, wenn die Begehung der zur Inhaftierung führenden Straftat behinderungsbedingt ist.
Der BFH hat nun herausgestellt, dass die Rechtsprechungsgrundsätze zur Kausalität der Behinderung für die fehlende Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt für die Fälle, in denen ein Strafgericht die Unterbringung des Kindes in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet hat, fortzuentwickeln und zu präzisieren sind.
Die erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt muss daher nicht zwangsläufig entfallen, wenn das Kind aufgrund seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus einer bedarfsdeckenden Erwerbstätigkeit nicht nachgehen kann. Zwar ist das Kind dann letztlich wegen der freiheitsentziehenden Maßnahme nicht mehr in der Lage, sich selbst zu unterhalten. Die erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt kann aber weiterhin fortbestehen.
Ob die Behinderung eine wesentliche Mitursache für die fehlende Fähigkeit zum Selbstunterhalt bleibt oder ob die zwangsweise Unterbringung in einem Krankenhaus oder einer Justizvollzugsanstalt diese Ursache so überlagert, dass die Behinderung im Vergleich dazu nicht mehr als wesentliche Bedingung angesehen werden kann, kann nur anhand der jeweiligen Situation des behinderten Kindes nach den Gesamtumständen des Einzelfalles bewertet werden.
Der Freiheitsentzug selbst ist dabei lediglich eines von mehreren Indizien, die im Rahmen der Gesamtwürdigung zu berücksichtigen sind. Daneben sind aber auch die Umstände festzustellen und zu gewichten, die zu der freiheitsentziehenden Maßnahme geführt haben. Dabei können die Ergebnisse des Strafverfahrens beziehungsweise Sicherungsverfahrens (§§ 413 ff. StPO) herangezogen werden.
Ergibt sich daraus, dass das Kind an einer seelischen Erkrankung leidet, welche zugleich die vor dem 25. Lebensjahr eingetretene Behinderung darstellt, und deswegen eine oder mehrere rechtswidrige Taten begangen hat, für die ihm kein Schuldvorwurf gemacht (§ 20 StGB) und wegen der es daher nicht verurteilt werden kann, so liegt darin ein gewichtiges Indiz für eine fortwirkende erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung.
Die freiheitsentziehende Maßnahme nach § 63 StGB kann nur deshalb angeordnet werden, weil eine länger andauernde Beeinträchtigung der geistigen oder seelischen Gesundheit vorliegt, diese kausal für die Tat war und darüber hinaus die Gefahr besteht, dass der Täter infolge seines Zustands in Zukunft Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird. Der Freiheitsentzug erfolgt nicht zur Ahndung eines vorwerfbaren Verhaltens, sondern aufgrund der krankheitsbedingten Gefährlichkeit des Kindes zum Schutze der Allgemeinheit. In einem solchen Fall stellt die Unterbringung im Maßregelvollzug keinen Fall der überholenden Kausalität dar, der die Behinderung als für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt unbeachtlich erscheinen ließe.
Etwas anderes kann jedoch gelten, wenn die Unterbringung nach § 63 StGB neben einer Verurteilung ausgesprochen wird. Denn eine Freiheitsstrafe dient der Ahndung einer (trotz der Behinderung) vorwerfbar begangenen Tat und hindert das behinderte Kind unabhängig von seinem Handicap (wie ein nicht behindertes Kind) an der Erwerbstätigkeit. Dies gilt auch im Falle einer im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit begangenen Tat. Die Verurteilung aufgrund der vorwerfbaren Tat stellt eine Zäsur dar. Zwar wird der Ursachenzusammenhang zwischen der Behinderung und der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt in diesem Fall nicht vollständig beseitigt. Dies schließt es aber nicht aus, die aufgrund des vorwerfbaren Verhaltens angeordnete freiheitsentziehende Maßnahme im Rahmen der Prüfung der Mitursächlichkeit als die rechtlich allein wesentliche Bedingung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt zu werten.