20.07.2023

Verrechnung und Hinzurechnung (§ 10 Abs. 4b Sätze 2 und 3 EStG) einer Erstattung von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung für mehrere Jahre

1. Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung, die dem Steuerpflichtigen erstattet worden sind, sind auch dann gemäß § 10 Abs. 4b Satz 2 EStG mit den dort genannten Aufwendungen zu verrechnen und gemäß § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG dem Gesamtbetrag der Einkünfte hinzuzurechnen, wenn die Erstattung darauf beruht, dass ein Sozialversicherungsverhältnis rückabgewickelt oder rückwirkend umgestellt worden ist.
2. Die Verrechnung und die Hinzurechnung nach § 10 Abs. 4b Sätze 2 und 3 EStG sind unabhängig davon vorzunehmen, ob im Erstattungsjahr noch eine Änderung der Bescheide der Zahlungsjahre nach §§ 173 ff. AO möglich ist.
3. Die Regelungen über die Verrechnung und Hinzurechnung erstatteter Sonderausgaben in § 10 Abs. 4b Sätze 2 und 3 EStG verstoßen nicht gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot oder den Grundsatz des Vertrauensschutzes.

Kurzbesprechung
BFH v. 22.3.2023 - X R 27/21

EStG § 10 Abs 1 Nr. 3, § 10 Abs 4b
AO § 169 Abs 2 S 1 Nr. 2, § 175 Abs 1 S 1 Nr. 2
GG Art 2 Abs 1, Art 3 Abs 1, Art 20 Abs 3


Im Streitjahr 2017 erhielt die Ehefrau von ihrer Krankenkasse eine Erstattung von Beiträgen zur Basis-Krankenversicherung und zur Basis-Pflegeversicherung der Jahre 2003 bis 2016. Der Erstattung war ein sozialgerichtliches Verfahren vorausgegangen, in dessen Rahmen festgestellt worden war, dass sie für den genannten Zeitraum zu Unrecht zur freiwilligen Krankenversicherung herangezogen worden sei; tatsächlich habe sie die Voraussetzungen der Pflichtversicherung erfüllt. Das Versicherungsverhältnis wurde in der Folge rückwirkend umgestellt.

Das FA erfasste die Zahlung der Krankenkasse als erstattete Aufwendungen i.S. von § 10 Abs. 4b Satz 2 EStG und verrechnete diese zunächst mit den Vorsorgeaufwendungen der Eheleute gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 EStG. Den verbleibenden Betrag rechnete das FA gemäß § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG dem Gesamtbetrag der Einkünfte hinzu.

Nach erfolglosem Einspruchs - und Klageverfahren wies auch der BFH die von den Eheleuten eingelegte Revision als unbegründet zurück und bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz.

Gemäß § 10 Abs. 4b Satz 2 EStG ist, wenn bei den Sonderausgaben nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 bis 3a EStG die im Veranlagungszeitraum erstatteten Aufwendungen die geleisteten Aufwendungen übersteigen (Erstattungsüberhang), der Erstattungsüberhang mit anderen im Rahmen der jeweiligen Nummer anzusetzenden Aufwendungen zu verrechnen. Ein verbleibender Betrag des sich bei den Aufwendungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 und 4 EStG ergebenden Erstattungsüberhangs ist gemäß § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG dem Gesamtbetrag der Einkünfte hinzuzurechnen.

In den sachlichen Anwendungsbereich der Verrechnung nach § 10 Abs. 4b Satz 2 EStG und der Hinzurechnung nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG fallen grundsätzlich alle Zahlungen, die der Steuerpflichtige als Rückfluss von Aufwendungen erhält, die er im Zusammenhang mit den dort jeweils genannten Sonderausgaben getätigt hat. Auf den Grund für den Rückfluss der Aufwendungen kommt es nicht an.

Der Begriff "erstattete Aufwendungen" ist nach Wortlaut und Systematik des § 10 Abs. 4b Sätze 2 und 3 EStG weit auszulegen. Erstattet i.S. von § 10 Abs. 4b Sätze 2 und 3 EStG sind diejenigen Aufwendungen aus dem jeweiligen sachlichen Anwendungsbereich der genannten Regelungen, die dem Steuerpflichtigen in einer Umkehrung der Ausgaben in Geld oder Geldeswert nach Abfluss wieder zufließen. Eine Einschränkung im Hinblick auf den tatsächlichen oder rechtlichen Grund für diesen Rückfluss enthalten die genannten Regelungen ihrem Wortlaut nach nicht.

Auch der Regelungssystematik des § 10 EStG lässt sich eine solche Einschränkung nicht entnehmen. Das spricht dafür, dass im Fall des § 10 Abs. 4b Satz 2 EStG grundsätzlich alles, was bei dem Steuerpflichtigen als Aufwendungen i.S. von § 10 Abs. 1 Nr. 2 bis 3a EStG abgeflossen ist, im Falle des späteren Rückflusses im Wege der Verrechnung erfasst werden soll. Gleichermaßen soll im Fall des § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG grundsätzlich alles, was bei dem Steuerpflichtigen als Aufwendungen i.S. von § 10 Abs. 1 Nr. 3 und 4 EStG abgeflossen und nicht im Rahmen des § 10 Abs. 4b Satz 2 EStG verrechnet worden ist, im Falle des späteren Rückflusses im Wege der Hinzurechnung erfasst werden. § 10 Abs. 4b Sätze 2 und 3 EStG ist insbesondere auch dann anzuwenden sind, wenn eine Erstattung von Aufwendungen darauf beruht, dass ein Sozialversicherungsverhältnis rückabgewickelt oder rückwirkend umgestellt worden ist. An weitere tatbestandliche Voraussetzungen sind die Verrechnung nach § 10 Abs. 4b Satz 2 EStG und die Hinzurechnung nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG nicht geknüpft.

Die Hinzurechnung eines aus der Verrechnung des Erstattungsüberhangs verbleibenden Betrags i.S. des § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG setzt nicht notwendig voraus, dass der Steuerpflichtige im Veranlagungszeitraum der Erstattung von Aufwendungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 und 4 EStG zugleich entsprechend Aufwendungen getätigt haben muss. Ein "Erstattungsüberhang" i.S. von § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG kann daher auch dann vorliegen, wenn der Zahlungsbetrag im Erstattungsjahr 0 € betragen hat. Der Erstattung müssen daher auch keine jährlich wiederkehrenden Sonderausgaben gegenüber stehen.

Die Verrechnung nach § 10 Abs. 4b Satz 2 EStG und die Hinzurechnung nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG stehen ihrem Wortlaut nach auch nicht unter dem tatbestandlichen Vorbehalt, dass im Erstattungsjahr hinsichtlich der Zahlungsjahre noch eine Änderungsmöglichkeit nach den §§ 173 ff. AO gegeben sein muss. Aus dem systematischen Zusammenhang und der Entstehungsgeschichte der genannten Regelungen lässt sich eine solche Einschränkung ebenfalls nicht herleiten. Dem dargelegten Sinn und Zweck der beiden Vorschriften widerspräche ein solches Verständnis, da andernfalls die Möglichkeit einer "Wiederaufrollung der Steuerfestsetzungen von Vorjahren" zumindest hypothetisch geprüft werden müsste. Dies liefe dem angestrebten Vereinfachungszweck zuwider.

Darüber hinaus hält der BFH § 10 Abs. 4b Sätze 2 und 3 EStG auch für verfassungsgemäß.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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