Verweigerung des Mehrwertsteuerabzugs wegen Steuerhinterziehung des Rechnungsausstellers nur bei Kenntnis oder Kennenmüssen des Steuerpflichtigen
EuGH 21.6.2012, C-80/11 u.a.+++ C-80/11 +++
Die Mahagében kft, ein ungarisches Unternehmen, wollte von der Mehrwertsteuer, die sie schuldete, die Vorsteuer abziehen, die sie ihrem Lieferanten für die Lieferung unterschiedlicher Mengen Akazienstämme gezahlt hatte. Der Lieferant stellte über die Lieferung dieser Gegenstände Rechnungen aus und zahlte die Mehrwertsteuer, die Mahagében an ihn entrichtet hatte, an den Fiskus. Mahagében wiederum übte das Abzugsrecht aus.
Bei einer Überprüfung des Lieferanten stellte die ungarische Steuerbehörde jedoch u.a. fest, dass die Menge Akazienstämme, über die er nach seinen Büchern zum Zeitpunkt der Verkäufe an Mahagében verfügt hatte, nicht ausgereicht hat, um die dieser in Rechnung gestellten Lieferungen durchzuführen. Da die Steuerbehörde davon ausging, dass die von Mahagében vorgelegten Rechnungen nicht den tatsächlichen Umständen dieser Lieferungen entsprachen, verweigerte sie ihr den Mehrwertsteuerabzug. Außerdem warf sie Mahagében vor, sich nicht der Qualität seines Handelspartners vergewissert und nicht überprüft zu haben, ob dieser seine mehrwertsteuerrechtlichen Pflichten erfüllt habe.
Das ungarische Bezirksgericht Baranya, das über die Sache zu entscheiden hat, möchte vom EuGH wissen, ob der Mehrwertsteuerabzug verweigert werden darf, wenn die Rechnungen, für die der Abzug verlangt wird, zwar formell korrekt sind, das betreffende Unternehmen sich der Steuerbehörde zufolge aber nicht des ordnungsgemäßen Verhaltens des Rechnungsausstellers vergewissert hat.
+++ C-142/11 +++
Herr Dávid führte auf der Grundlage eines Werkvertrags und unter Einsatz von Subunternehmern verschiedene Bauarbeiten durch. Er wollte die Mehrwertsteuer abziehen, die er bereits an die Subunternehmer gezahlt hatte. Die ungarische Steuerbehörde verweigerte ihm diesen Abzug jedoch, weil die Subunternehmer Unregelmäßigkeiten begangen hatten.
Das ungarische Bezirksgericht Jász-Nagykun-Szolnok, das über die Sache zu entscheiden hat, möchte vom EuGH wissen, ob der Mehrwertsteuerabzug wegen Unregelmäßigkeiten, die der Rechnungsaussteller begangen hat, verweigert werden kann, wenn nicht feststeht, dass derjenige, der den Abzug beantragt, von diesen Unregelmäßigkeiten wusste.
Die Gründe:
Die Mehrwertsteuerrichtlinie steht der Praxis der ungarischen Steuerbehörde entgegen, dem Steuerpflichtigen den Abzug der entrichteten Mehrwertsteuer wegen vom Aussteller der Rechnung begangener Unregelmäßigkeiten zu verweigern, und zwar ohne dass bewiesen wäre, dass der Steuerpflichtige von einer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe der Leistungskette begangenen Steuerhinterziehung wusste oder hätte wissen können. Die Richtlinie steht auch einer nationalen Praxis entgegen, nach der die Steuerbehörde das Vorsteuerabzugsrecht mit der Begründung verweigert, dass der Steuerpflichtige sich nicht vergewissert habe, dass sein Handelspartner seine rechtlichen Verpflichtungen insbes. auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer erfülle, obwohl der Steuerpflichtige über keine Anhaltspunkte verfügte, die Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung in der Sphäre dieses Partners vermuten ließen.
Das in der Richtlinie vorgesehene Recht auf Vorsteuerabzug kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Ob die Mehrwertsteuer, die für die vorausgegangenen oder nachfolgenden Umsätze bzgl. der betreffenden Gegenstände und Dienstleistungen geschuldet war, tatsächlich an den Fiskus entrichtet wurde, ist für das Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug nicht von Bedeutung. Die Mitgliedstaaten können den Vorteil des Rechts auf Vorsteuerabzug jedoch versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird.
Dies ist insbes. dann der Fall, wenn der Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert bzw. dem gegenüber die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass dieser Umsatz in eine vom Liefernden bzw. vom Leistenden oder einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangene Steuerhinterziehung einbezogen war. Den Nachweis, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass eine solche Steuerhinterziehung vorlag, hat die Steuerbehörde zu führen.
Ein Wirtschaftsteilnehmer kann, wenn Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung vorliegen, verpflichtet sein, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer Auskünfte einzuholen, um sich von dessen Zuverlässigkeit zu überzeugen. Allerdings kann die Steuerbehörde nicht generell verlangen, dass der Steuerpflichtige, der sein Recht auf Mehrwertsteuerabzug ausüben will, überprüft, dass auf der Ebene der Wirtschaftsteilnehmer einer vorhergehenden Umsatzstufe keine Unregelmäßigkeiten und Steuerhinterziehung vorliegen. Denn es ist Sache der Steuerbehörden, bei den Steuerpflichtigen die erforderlichen Kontrollen durchzuführen und ggf. Sanktionen zu verhängen.
In den Streitfällen wurden die Umsätze, die geltend gemacht werden, um das Recht auf Vorsteuerabzug zu begründen, tatsächlich durchgeführt. Die entsprechenden Rechnungen enthalten auch alle nach der Richtlinie erforderlichen Angaben, so dass die materiellen und formellen Voraussetzungen für die Entstehung und die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt sind. Es wurden zudem keine Feststellungen dahin getroffen, dass die Empfänger der Rechnungen selbst Manipulationen wie die Abgabe falscher Erklärungen oder die Ausstellung nicht ordnungsgemäßer Rechnungen vorgenommen hätten.
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