Voraussetzungen für unionsrechtlichen Anspruch auf Erstattung von an Vorlieferanten zu viel gezahlter Mehrwertsteuer (sog. Reemtsma-Anspruch)
FG Münster v. 23.1.2024, 15 K 2327/20 AO
Der Sachverhalt:
Der Kläger lieferte Holz, das er von seinen Vorlieferanten mit 19 % Umsatzsteuer erworben hatte, an seine Kunden zum ermäßigten Steuersatz von 7 % weiter. In einem gegen das Finanzamt geführten Rechtsstreit bestätigte das FG Münster, dass der Kläger seine Holzlieferungen zurecht dem ermäßigten Steuersatz unterworfen hatte, führte aber zugleich aus, dass auch die Eingangsleistungen seiner Lieferanten lediglich mit 7 % zu besteuern seien. Dem folgend kürzte das Finanzamt den Vorsteuerabzug des Klägers und forderte die Differenzbeträge von ihm zurück. Der Kläger trat an seine Vorlieferanten mit der Bitte heran, ihre Rechnungen zu berichtigen und ihm die Differenz auszuzahlen. Diese machten jedoch die zivilrechtliche Einrede der Verjährung geltend.
Daraufhin stellte der Kläger beim Finanzamt den Antrag, die Differenzbeträge aus Billigkeitsgründen zu erlassen und berief sich hierzu auf das "Reemtsma-Urteil" des EuGH (vom 15.3.2007 - C-35/05). Diesen Antrag lehnte das Finanzamt ab, weil der Kläger selbst für die Situation verantwortlich sei, denn er habe die Ware nicht mit einem veränderten Steuersatz weiterveräußern dürfen. Hiergegen richtet sich die Klage des Klägers.
Das FG setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH entsprechende Fragen zur Vorabentscheidung vor. Dieser hat mit Urteil vom 7.9.2023 (C-453/22) entschieden, dass der sog. Reemtsma-Anspruch auch bei zivilrechtlicher Verjährung möglich ist. Der Kläger war daraufhin der Ansicht, ihm stehe ein Direktanspruch gegen den Beklagten auf Erlass der gekürzten Vorsteuern nebst den festgesetzten Zinsen im Billigkeitswege gem. §§ 163, 227 AO zu. Das Ermessen des Beklagten sei auf Null reduziert.
Das FG gab der Klage überwiegend statt. Allerdings wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Fortbildung des Rechts die Revision zum BFH zugelassen.
Die Gründe:
Der Kläger hat aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null einen Anspruch auf Erlass der Umsatzsteuer 2011 bis 2013 aus Billigkeitsgründen i.H.d. Vorsteuerkürzungen aus den Eingangsrechnungen der Lieferanten.
Nach EuGH-Rechtsprechung besteht in Ausnahmefällen - unter Beachtung des Grundsatzes der Effektivität - ein unmittelbarer Erstattungsanspruch des Leistungsempfängers gegen die Finanzbehörde, der als sog. Reemtsma-Direktanspruch bezeichnet wird. Voraussetzung hierfür ist, dass die Erstattung der Mehrwertsteuer für den Leistungsempfänger vom Leistenden unmöglich oder übermäßig erschwert wird. Hierzu müssen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen, die es dem Leistungsempfänger ermöglichen, zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer erstattet zu bekommen.
Auf das Vorabentscheidungsersuchen des erkennenden Senats im vorliegenden Klageverfahren hat der EuGH in seinem Urteil vom 7.9.2023 (Rs.C-453/22, Schütte) die Voraussetzungen für den Direktanspruch weiter konkretisiert und entschieden, dass die MwStSystRL sowie der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen sind, dass sie verlangen, dass dem Empfänger von Lieferungen von Gegenständen ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer, die er an seine Lieferer gezahlt hat und die diese an die Staatskasse abgeführt haben, einschließlich der damit zusammenhängenden Zinsen, unmittelbar gegen die Steuerbehörde zusteht, wenn er zum einen, ohne dass ihm Betrug, Missbrauch oder Fahrlässigkeit vorgeworfen werden können, diese Erstattung aufgrund der im nationalen Recht vorgesehenen Verjährung nicht mehr von diesen Lieferern fordern kann und zum anderen formal die Möglichkeit besteht, dass diese Lieferer, nachdem sie die ursprünglich an den Empfänger dieser Lieferungen gerichteten Rechnungen berichtigt haben, im Nachhinein von der Steuerbehörde die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verlangen.
Diese Voraussetzungen waren im Streitfall erfüllt. Es gab auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Lauf der Verjährung nach § 206 BGB gehemmt war, sodass die Verjährung der Ansprüche aus den Jahren 2011, 2012 und 2013 mit Ablauf der Jahre 2014, 2015 und 2016 eingetreten ist. Zudem schied ein Betrug, Missbrauch oder eine Fahrlässigkeit in Bezug auf die Inanspruchnahme des Rechts auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Umsatzsteuer bereits deshalb aus, weil der Kläger die in den Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer tatsächlich an seine Lieferer gezahlt hatte, die ihrerseits diese Steuerbeträge an die Steuerbehörde abgeführt haben. Allein aufgrund des Eintritts der Verjährung, den die Vorlieferanten ihm gegenüber auch als Einrede erhoben haben, war es ihm unmöglich, von diesen die Erstattung der zu viel gezahlten Umsatzsteuer, die er aufgrund des Urteils des erkennenden Senates vom 2.7.2019 (15 K 2794/17 U) nicht als Vorsteuer abziehen konnte, zu erlangen. Der Kläger begehrte mit seinem Erstattungsanspruch keinen unberechtigten Vorteil, sondern vielmehr den Ausgleich des ihm entstandenen Schadens.
Hinsichtlich der Verzinsung war die Klage nur teilweise begründet, da der zu erlassene Betrag in gewisser Höhe - abweichend vom Klagebegehren - erst seit dem 25.2.2021 und nur in gesetzlicher Höhe (§ 238 Abs. 1a AO) zu verzinsen war. Im Übrigen, nämlich soweit der Kläger den Erlass und die Verzinsung der ihm gegenüber festgesetzten und gezahlten Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer 2011 bis 2013 beantragt hatte, war die Klage unbegründet.
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Justiz NRW
Der Kläger lieferte Holz, das er von seinen Vorlieferanten mit 19 % Umsatzsteuer erworben hatte, an seine Kunden zum ermäßigten Steuersatz von 7 % weiter. In einem gegen das Finanzamt geführten Rechtsstreit bestätigte das FG Münster, dass der Kläger seine Holzlieferungen zurecht dem ermäßigten Steuersatz unterworfen hatte, führte aber zugleich aus, dass auch die Eingangsleistungen seiner Lieferanten lediglich mit 7 % zu besteuern seien. Dem folgend kürzte das Finanzamt den Vorsteuerabzug des Klägers und forderte die Differenzbeträge von ihm zurück. Der Kläger trat an seine Vorlieferanten mit der Bitte heran, ihre Rechnungen zu berichtigen und ihm die Differenz auszuzahlen. Diese machten jedoch die zivilrechtliche Einrede der Verjährung geltend.
Daraufhin stellte der Kläger beim Finanzamt den Antrag, die Differenzbeträge aus Billigkeitsgründen zu erlassen und berief sich hierzu auf das "Reemtsma-Urteil" des EuGH (vom 15.3.2007 - C-35/05). Diesen Antrag lehnte das Finanzamt ab, weil der Kläger selbst für die Situation verantwortlich sei, denn er habe die Ware nicht mit einem veränderten Steuersatz weiterveräußern dürfen. Hiergegen richtet sich die Klage des Klägers.
Das FG setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH entsprechende Fragen zur Vorabentscheidung vor. Dieser hat mit Urteil vom 7.9.2023 (C-453/22) entschieden, dass der sog. Reemtsma-Anspruch auch bei zivilrechtlicher Verjährung möglich ist. Der Kläger war daraufhin der Ansicht, ihm stehe ein Direktanspruch gegen den Beklagten auf Erlass der gekürzten Vorsteuern nebst den festgesetzten Zinsen im Billigkeitswege gem. §§ 163, 227 AO zu. Das Ermessen des Beklagten sei auf Null reduziert.
Das FG gab der Klage überwiegend statt. Allerdings wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Fortbildung des Rechts die Revision zum BFH zugelassen.
Die Gründe:
Der Kläger hat aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null einen Anspruch auf Erlass der Umsatzsteuer 2011 bis 2013 aus Billigkeitsgründen i.H.d. Vorsteuerkürzungen aus den Eingangsrechnungen der Lieferanten.
Nach EuGH-Rechtsprechung besteht in Ausnahmefällen - unter Beachtung des Grundsatzes der Effektivität - ein unmittelbarer Erstattungsanspruch des Leistungsempfängers gegen die Finanzbehörde, der als sog. Reemtsma-Direktanspruch bezeichnet wird. Voraussetzung hierfür ist, dass die Erstattung der Mehrwertsteuer für den Leistungsempfänger vom Leistenden unmöglich oder übermäßig erschwert wird. Hierzu müssen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen, die es dem Leistungsempfänger ermöglichen, zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer erstattet zu bekommen.
Auf das Vorabentscheidungsersuchen des erkennenden Senats im vorliegenden Klageverfahren hat der EuGH in seinem Urteil vom 7.9.2023 (Rs.C-453/22, Schütte) die Voraussetzungen für den Direktanspruch weiter konkretisiert und entschieden, dass die MwStSystRL sowie der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen sind, dass sie verlangen, dass dem Empfänger von Lieferungen von Gegenständen ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer, die er an seine Lieferer gezahlt hat und die diese an die Staatskasse abgeführt haben, einschließlich der damit zusammenhängenden Zinsen, unmittelbar gegen die Steuerbehörde zusteht, wenn er zum einen, ohne dass ihm Betrug, Missbrauch oder Fahrlässigkeit vorgeworfen werden können, diese Erstattung aufgrund der im nationalen Recht vorgesehenen Verjährung nicht mehr von diesen Lieferern fordern kann und zum anderen formal die Möglichkeit besteht, dass diese Lieferer, nachdem sie die ursprünglich an den Empfänger dieser Lieferungen gerichteten Rechnungen berichtigt haben, im Nachhinein von der Steuerbehörde die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verlangen.
Diese Voraussetzungen waren im Streitfall erfüllt. Es gab auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Lauf der Verjährung nach § 206 BGB gehemmt war, sodass die Verjährung der Ansprüche aus den Jahren 2011, 2012 und 2013 mit Ablauf der Jahre 2014, 2015 und 2016 eingetreten ist. Zudem schied ein Betrug, Missbrauch oder eine Fahrlässigkeit in Bezug auf die Inanspruchnahme des Rechts auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Umsatzsteuer bereits deshalb aus, weil der Kläger die in den Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer tatsächlich an seine Lieferer gezahlt hatte, die ihrerseits diese Steuerbeträge an die Steuerbehörde abgeführt haben. Allein aufgrund des Eintritts der Verjährung, den die Vorlieferanten ihm gegenüber auch als Einrede erhoben haben, war es ihm unmöglich, von diesen die Erstattung der zu viel gezahlten Umsatzsteuer, die er aufgrund des Urteils des erkennenden Senates vom 2.7.2019 (15 K 2794/17 U) nicht als Vorsteuer abziehen konnte, zu erlangen. Der Kläger begehrte mit seinem Erstattungsanspruch keinen unberechtigten Vorteil, sondern vielmehr den Ausgleich des ihm entstandenen Schadens.
Hinsichtlich der Verzinsung war die Klage nur teilweise begründet, da der zu erlassene Betrag in gewisser Höhe - abweichend vom Klagebegehren - erst seit dem 25.2.2021 und nur in gesetzlicher Höhe (§ 238 Abs. 1a AO) zu verzinsen war. Im Übrigen, nämlich soweit der Kläger den Erlass und die Verzinsung der ihm gegenüber festgesetzten und gezahlten Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer 2011 bis 2013 beantragt hatte, war die Klage unbegründet.
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