Was ist unter einem "bestimmten Sachverhalt" i.S.d. § 174 Abs. 4 AO zu verstehen?
FG Köln v. 21.2.2019 - 10 K 1074/17
Der Sachverhalt:
Die Klägerin ist eine GmbH, die in den Streitjahren 2011 und 2012 u.a. elektronische Versicherungsbestätigungen (eVB) für die Zulassung von Fahrzeugen, die sie wiederum von ihren Lieferanten erhielt, vermittelte. Bei einem Teil der eVB erfolgte keine Vermittlung an die Käufer von Fahrzeugen, sondern an andere Unternehmen. Aus dieser Tätigkeit erzielte die Klägerin Einnahmen i.H.v. rund 17.526 € (2011) und 52.603 € (2012), die sie als umsatzsteuerfrei nach § 4 Nr. 11 UStG behandelte und insoweit antragsgemäß zur Umsatzsteuer und Körperschaftsteuer veranlagt wurde.
Nach einer Betriebsprüfung vertrat das Finanzamt die Auffassung, dass die entgeltliche Weitergabe von Blanko-Versicherungsbestätigungen der Umsatzsteuer zu unterwerfen sei und behandelte die hierauf entfallenden Einnahmen als Bruttoeinnahmen. Dementsprechend wurden die bisher erklärten Umsatzsteuerbeträge erhöht. Der Gewinn der Klägerin wurde entsprechend gemindert. Das gegen die geänderten Umsatzsteuerbescheide geführte Einspruchsverfahren ruhte in der Folgezeit bis zur Entscheidung des beim BFH unter dem Az. V R 9/13 anhängigen Revisionsverfahrens gegen ein Urteil des FG Münster, mit der der BFH die Rechtsauffassung der Klägerin bestätigte. Daraufhin half das Finanzamt den Einsprüchen der Klägerin ab und erließ geänderte Körperschaftsteuerbescheide in denen die zuvor durchgeführten Gewinnminderungen für für die Streitjahre rückgängig gemacht wurden.
In dem gegen die geänderten Körperschaftsteuerbescheide unter Verweis auf das Urteil des FG München vom 8.5.2014 (Az.: 15 K 2272/11) geführten Einspruchsverfahren vertrat die Klägerin die Ansicht, dass die Bescheide nicht hätten geändert werden dürfen. Der Begriff des bestimmten Sachverhalts i.S.v. § 174 Abs. 4 S. 1 AO sei auf einen einheitlichen Lebensvorgang bezogen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpfe. Die Regelung könne nur Anpassungen erfassen, die unmittelbar aus dem Sachverhalt und nicht aus den steuerlichen Folgen dieses Sachverhalts resultierten.
Das FG wies jedoch die gegen die geänderten Körperschaftsteuerbescheide gerichtete Klage ab. Allerdings wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zugelassen. Das Verfahren ist beim BFH unter dem Az.: XI R 5/19 anhängig.
Die Gründe:
Das Finanzamt hat die Körperschaftsteuerbescheide 2011 und 2012 zu Recht nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO geändert.
Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Dies gilt gem. § 174 Abs. 4 Satz 2 AO auch dann, wenn der Steuerbescheid durch das Gericht aufgehoben oder geändert wird. Nach § 174 Abs. 4 Satz 3 AO ist der Ablauf der Festsetzungsfrist unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids gezogen werden. War die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen, als der später aufgehobene oder geänderte Bescheid erlassen wurde, gilt dies nur unter den Voraussetzungen des Abs. 3 Satz 1 (§ 174 Abs. 4 Satz 4 AO).
Zu Recht hat das Finanzamt die streitgegenständlichen Körperschaftsteuerbescheide nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aufgrund desselben "bestimmten Sachverhalts" - dies allein ist hier streitig - geändert, auf dessen irriger Beurteilung die Änderung der Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre beruhte. Nach ständiger Rechtsprechung ist nämlich unter einem "bestimmten Sachverhalt" i.S.d. § 174 Abs. 4 Satz 1 AO der einzelne Lebensvorgang zu verstehen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Der Begriff erfasst nicht nur eine einzelne steuererhebliche Tatsache oder ein einzelnes steuerrechtlich bedeutsames Merkmal, sondern den einheitlichen, für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex.
Dabei muss der dem geänderten Steuerbescheid zugrunde liegende Sachverhalt mit dem zu ändernden Steuerbescheid zugrunde liegenden Sachverhalt übereinstimmen. Die Übereinstimmung setzt keine vollständige Identität voraus, nach den Erfordernissen des jeweiligen steuerlichen Tatbestands kann teilweise Deckungsgleichheit genügen. Der Sachverhalt wird vielmehr durch die der rechtlichen Beurteilung zugrundeliegenden Lebensvorgänge (Sachverhaltskomplex) gebildet. Hierbei dürfen in dem geänderten Bescheid keine Sachverhaltselemente enthalten sein, die bei der Beurteilung in dem zu ändernden Bescheid keine Rolle mehr spielen. Nach dem sog. Verbot der Sachverhaltsergänzung muss die Sachverhaltsgrundlage des geänderten Bescheids unverändert zur Grundlage des zu ändernden Bescheids werden.
Dabei dürfen die steuerlichen Folgerungen nur aus dem Sachverhalt, nicht aus den steuerlichen Folgerungen dieses Sachverhalts gezogen werden. Die Folgeänderung muss nicht auf die gleiche Rechtsfolge gerichtet sein oder die gleiche Steuerart betreffen. Maßgeblich ist allein, ob bezogen auf den zu beurteilenden Sachverhalt eine sachliche Verbindung zwischen beiden Regelungsgegenständen besteht. § 174 Abs. 4 AO ist nicht auf Fälle der Objekt-, Perioden-, Zuständigkeits- oder Subjektkollision beschränkt, sondern enthält eine spezialgesetzliche Ausformung von Treu und Glauben. Hat der Steuerpflichtige erfolgreich für seine Rechtsansicht gestritten, so hat er auch die damit denklogisch verbundenen Nachteile hinzunehmen, soweit derselbe Sachverhalt zu beurteilen ist. Da die Regelung den Ausgleich einer zu Gunsten des Steuerpflichtigen eingetretenen Änderung bezweckt, erlaubt sie nur eine Änderung zu Ungunsten des Steuerpflichtigen.
Der der rechtlichen Beurteilung zugrundeliegende Sachverhalt ist vorliegend die Tätigkeit der Klägerin als Versicherungsmakler durch die entgeltliche Weitergabe von Blanko-Versicherungsbestätigungen. Diese Tätigkeit ist der einheitliche Lebensvorgang, der bei der Umsatzsteuer dazu führt, dass diese nach § 4 Nr. 11 UStG nicht erhoben wird und die gleichzeitig bei der Körperschaftsteuer dazu führt, dass die hier zu erfassenden Einnahmen als Nettoeinnahmen zu behandeln sind. Beide steuerlichen Folgerungen beruhen insoweit auf demselben einheitlichen Sachverhalt ohne das Erfordernis weiterer Sachverhaltselemente. Unerheblich ist, dass die Folgeänderung nicht auf die gleiche Rechtsfolge gerichtet ist, bzw. dass unterschiedliche Steuerarten betroffen sind. Dass es in den Umsatzsteuerbescheiden um die umsatzsteuerliche Behandlung dieser Tätigkeit und in den nach § 174 Abs. 4 AO zu ändernden Körperschaftsteuerbescheiden um die hieraus folgende Behandlung als Netto- oder Bruttoeinnahmen geht, ist insoweit unbeachtlich.
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Die Klägerin ist eine GmbH, die in den Streitjahren 2011 und 2012 u.a. elektronische Versicherungsbestätigungen (eVB) für die Zulassung von Fahrzeugen, die sie wiederum von ihren Lieferanten erhielt, vermittelte. Bei einem Teil der eVB erfolgte keine Vermittlung an die Käufer von Fahrzeugen, sondern an andere Unternehmen. Aus dieser Tätigkeit erzielte die Klägerin Einnahmen i.H.v. rund 17.526 € (2011) und 52.603 € (2012), die sie als umsatzsteuerfrei nach § 4 Nr. 11 UStG behandelte und insoweit antragsgemäß zur Umsatzsteuer und Körperschaftsteuer veranlagt wurde.
Nach einer Betriebsprüfung vertrat das Finanzamt die Auffassung, dass die entgeltliche Weitergabe von Blanko-Versicherungsbestätigungen der Umsatzsteuer zu unterwerfen sei und behandelte die hierauf entfallenden Einnahmen als Bruttoeinnahmen. Dementsprechend wurden die bisher erklärten Umsatzsteuerbeträge erhöht. Der Gewinn der Klägerin wurde entsprechend gemindert. Das gegen die geänderten Umsatzsteuerbescheide geführte Einspruchsverfahren ruhte in der Folgezeit bis zur Entscheidung des beim BFH unter dem Az. V R 9/13 anhängigen Revisionsverfahrens gegen ein Urteil des FG Münster, mit der der BFH die Rechtsauffassung der Klägerin bestätigte. Daraufhin half das Finanzamt den Einsprüchen der Klägerin ab und erließ geänderte Körperschaftsteuerbescheide in denen die zuvor durchgeführten Gewinnminderungen für für die Streitjahre rückgängig gemacht wurden.
In dem gegen die geänderten Körperschaftsteuerbescheide unter Verweis auf das Urteil des FG München vom 8.5.2014 (Az.: 15 K 2272/11) geführten Einspruchsverfahren vertrat die Klägerin die Ansicht, dass die Bescheide nicht hätten geändert werden dürfen. Der Begriff des bestimmten Sachverhalts i.S.v. § 174 Abs. 4 S. 1 AO sei auf einen einheitlichen Lebensvorgang bezogen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpfe. Die Regelung könne nur Anpassungen erfassen, die unmittelbar aus dem Sachverhalt und nicht aus den steuerlichen Folgen dieses Sachverhalts resultierten.
Das FG wies jedoch die gegen die geänderten Körperschaftsteuerbescheide gerichtete Klage ab. Allerdings wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zugelassen. Das Verfahren ist beim BFH unter dem Az.: XI R 5/19 anhängig.
Die Gründe:
Das Finanzamt hat die Körperschaftsteuerbescheide 2011 und 2012 zu Recht nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO geändert.
Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Dies gilt gem. § 174 Abs. 4 Satz 2 AO auch dann, wenn der Steuerbescheid durch das Gericht aufgehoben oder geändert wird. Nach § 174 Abs. 4 Satz 3 AO ist der Ablauf der Festsetzungsfrist unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids gezogen werden. War die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen, als der später aufgehobene oder geänderte Bescheid erlassen wurde, gilt dies nur unter den Voraussetzungen des Abs. 3 Satz 1 (§ 174 Abs. 4 Satz 4 AO).
Zu Recht hat das Finanzamt die streitgegenständlichen Körperschaftsteuerbescheide nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aufgrund desselben "bestimmten Sachverhalts" - dies allein ist hier streitig - geändert, auf dessen irriger Beurteilung die Änderung der Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre beruhte. Nach ständiger Rechtsprechung ist nämlich unter einem "bestimmten Sachverhalt" i.S.d. § 174 Abs. 4 Satz 1 AO der einzelne Lebensvorgang zu verstehen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Der Begriff erfasst nicht nur eine einzelne steuererhebliche Tatsache oder ein einzelnes steuerrechtlich bedeutsames Merkmal, sondern den einheitlichen, für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex.
Dabei muss der dem geänderten Steuerbescheid zugrunde liegende Sachverhalt mit dem zu ändernden Steuerbescheid zugrunde liegenden Sachverhalt übereinstimmen. Die Übereinstimmung setzt keine vollständige Identität voraus, nach den Erfordernissen des jeweiligen steuerlichen Tatbestands kann teilweise Deckungsgleichheit genügen. Der Sachverhalt wird vielmehr durch die der rechtlichen Beurteilung zugrundeliegenden Lebensvorgänge (Sachverhaltskomplex) gebildet. Hierbei dürfen in dem geänderten Bescheid keine Sachverhaltselemente enthalten sein, die bei der Beurteilung in dem zu ändernden Bescheid keine Rolle mehr spielen. Nach dem sog. Verbot der Sachverhaltsergänzung muss die Sachverhaltsgrundlage des geänderten Bescheids unverändert zur Grundlage des zu ändernden Bescheids werden.
Dabei dürfen die steuerlichen Folgerungen nur aus dem Sachverhalt, nicht aus den steuerlichen Folgerungen dieses Sachverhalts gezogen werden. Die Folgeänderung muss nicht auf die gleiche Rechtsfolge gerichtet sein oder die gleiche Steuerart betreffen. Maßgeblich ist allein, ob bezogen auf den zu beurteilenden Sachverhalt eine sachliche Verbindung zwischen beiden Regelungsgegenständen besteht. § 174 Abs. 4 AO ist nicht auf Fälle der Objekt-, Perioden-, Zuständigkeits- oder Subjektkollision beschränkt, sondern enthält eine spezialgesetzliche Ausformung von Treu und Glauben. Hat der Steuerpflichtige erfolgreich für seine Rechtsansicht gestritten, so hat er auch die damit denklogisch verbundenen Nachteile hinzunehmen, soweit derselbe Sachverhalt zu beurteilen ist. Da die Regelung den Ausgleich einer zu Gunsten des Steuerpflichtigen eingetretenen Änderung bezweckt, erlaubt sie nur eine Änderung zu Ungunsten des Steuerpflichtigen.
Der der rechtlichen Beurteilung zugrundeliegende Sachverhalt ist vorliegend die Tätigkeit der Klägerin als Versicherungsmakler durch die entgeltliche Weitergabe von Blanko-Versicherungsbestätigungen. Diese Tätigkeit ist der einheitliche Lebensvorgang, der bei der Umsatzsteuer dazu führt, dass diese nach § 4 Nr. 11 UStG nicht erhoben wird und die gleichzeitig bei der Körperschaftsteuer dazu führt, dass die hier zu erfassenden Einnahmen als Nettoeinnahmen zu behandeln sind. Beide steuerlichen Folgerungen beruhen insoweit auf demselben einheitlichen Sachverhalt ohne das Erfordernis weiterer Sachverhaltselemente. Unerheblich ist, dass die Folgeänderung nicht auf die gleiche Rechtsfolge gerichtet ist, bzw. dass unterschiedliche Steuerarten betroffen sind. Dass es in den Umsatzsteuerbescheiden um die umsatzsteuerliche Behandlung dieser Tätigkeit und in den nach § 174 Abs. 4 AO zu ändernden Körperschaftsteuerbescheiden um die hieraus folgende Behandlung als Netto- oder Bruttoeinnahmen geht, ist insoweit unbeachtlich.
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