09.11.2023

Zahlung von Arbeitslohn als anfechtbare Rechtshandlung

Die Zahlung von Arbeitslohn stellt eine anfechtbare Rechtshandlung im Sinne der §§ 129 ff. der Insolvenzordnung dar.

Kurzbesprechung
BFH v. 18.4.2023 - VII R 35/19

InsO § 96 Abs 1 Nr. 3, § 129, § 131 Abs 1 Nr. 1, § 143 Abs 1 S 2
EStG § 38 Abs 2 S 2
AO § 37 Abs 1
BGB § 818 Abs 4, § 810 Abs 1, § 291, § 288 Abs 1
FGO § 107 Abs 1


Gemäß § 218 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 AO) ergeht unter anderem dann ein Abrechnungsbescheid, wenn die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) und ihr Erlöschen (§ 47 AO) durch Aufrechnung (§ 226 Abs. 1 AO i.V.m. §§ 387 ff. BGB) streitig sind. Im Streitfall hatte das FA zu Recht einen Abrechnungsbescheid erlassen, weil streitig war, ob der Anspruch der Schuldnerin auf Erstattung von Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag zur Körperschaftsteuer durch Aufrechnung erloschen war.

Die allgemeinen Voraussetzungen für eine Aufrechnung gemäß § 226 AO i.V.m. §§ 387 ff. BGB waren erfüllt. Die sich gegenüberstehenden Forderungen waren gleichartig, weil es sich sowohl bei den Lohnsteuerforderungen als auch bei dem Körperschaftsteuererstattungsanspruch um Geldforderungen handelte. Es handelte sich um gegenseitige Forderungen, weil sie im Verhältnis zwischen der Schuldnerin und dem FA jeweils gegen den anderen gerichtet waren.

Da der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens deutlich nach Ablauf des Veranlagungszeitraums gestellt wurde, bestand der Erstattungsanspruch bereits vor diesem Zeitpunkt und war daher erfüllbar. Wann genau der Zeitpunkt der Erfüllbarkeit eintrat, kann dahinstehen.

Das FG hatte zu Recht angenommen, dass der Aufrechnung ein Aufrechnungsverbot im Sinne von § 96 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO entgegenstand. Nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ist die Aufrechnung unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger die Möglichkeit der Aufrechnung durch eine anfechtbare Rechtshandlung im Sinne von §§ 129 ff. InsO erlangt hat. Im Streitfall lagen die in § 129 InsO geregelten allgemeinen Voraussetzungen der Insolvenzanfechtung vor.

Der Begriff der Rechtshandlung im Sinne der §§ 129 ff. InsO ist weit auszulegen. Als Rechtshandlung kommt jede Handlung in Betracht, die zum Erwerb einer Gläubiger- oder Schuldnerstellung führt, das heißt ein von einem Willen getragenes Handeln, das rechtliche Wirkungen auslöst und das Vermögen des Schuldners zum Nachteil der Insolvenzgläubiger verändern kann Erfasst werden nicht nur Rechtsgeschäfte, sondern auch rechtsgeschäfts-ähnliche Handlungen und Realakte, denen das Gesetz Rechtswirkungen beimisst. Dass die Rechtswirkungen (unabhängig vom Willen der Beteiligten) kraft Gesetzes eintreten, ist dabei unbeachtlich.

Darüber hinaus stellt auch die Herstellung einer Aufrechnungslage durch Rechtshandlungen eine eigenständige Rechtshandlung dar, die selbständig anfechtbar ist. Die Herstellung einer Aufrechnungslage durch Rechtshandlungen wirkt grundsätzlich gläubigerbenachteiligend im Sinne des § 129 Abs.1 InsO, da sich die Befriedigungsmöglichkeiten der übrigen Insolvenzgläubiger durch eine wirksame Aufrechnung eines Insolvenzgläubigers verschlechtern.

Dass die Rechtshandlung unmittelbar und unabhängig vom Hinzutreten etwaiger weiterer Umstände (z.B. Abgabe einer Steueranmeldung) eine Aufrechnungslage zum Entstehen bringen müsste, setzt § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO nicht voraus. Er verlangt lediglich, dass die Rechtshandlung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden ist, sie irgendeine Voraussetzung für die Aufrechnungsmöglichkeit des Insolvenzschuldners geschaffen hat und die Insolvenzgläubiger benachteiligt.

Im Streitfall hatte die Schuldnerin dadurch eine Rechtshandlung vorgenommen, dass sie im letzten Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ihren Arbeitnehmern Lohn überwiesen hatte.

Diese Rechtshandlung hat auch zu einer objektiven Gläubigerbenachteiligung geführt. Denn durch die Überweisung der Löhne ist bei der Schuldnerin insofern eine Verschlechterung der Vermögenssituation eingetreten, als sie infolgedessen für die Entrichtung der Lohnsteuer einzustehen hatte.

Auch die Kausalität zwischen der Rechtshandlung und der objektiven Gläubigerbenachteiligung lag vor, weil gerade durch die Zahlung der Löhne die Lohnsteuerschuld entstanden ist.

Des Weiteren lag eine Rechtshandlung auch darin, dass infolge der Zahlung der Arbeitslöhne eine Aufrechnungsmöglichkeit zugunsten des FA geschaffen wurde.

Auch hatte das FG zutreffend die (besonderen) Voraussetzungen einer inkongruenten Deckung im Sinne von § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO bejaht. Nach dieser Vorschrift ist eine Rechtshandlung anfechtbar, die einem Insolvenzgläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht hat, die er nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte, wenn die Handlung im letzten Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag vorgenommen worden ist.

Die Überweisung des Lohns wurde im Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens und somit innerhalb der in § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO genannten Frist vorgenommen. Auch hatte die Überweisung des Arbeitslohns zur Entstehung der Lohnsteuer und in der weiteren Folge zur Entstehung einer Aufrechnungslage geführt, sodass dem FA eine Möglichkeit zur Befriedigung gegeben wurde. Denn gemäß § 389 BGB bewirkt die Aufrechnung, dass die Forderungen, soweit sie sich decken, als in dem Zeitpunkt erloschen gelten, in welchem sie zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergetreten sind. Eine unmittelbare Befriedigung des FA (Gewährung einer Befriedigung) war demgegenüber noch nicht anzunehmen, weil die Aufrechnung zunächst noch von einer entsprechenden Erklärung des FA gemäß § 388 BGB abhing.

Das FA hatte auch keinen Anspruch auf die Befriedigungsmöglichkeit im Wege der Aufrechnung. Denn im Streitfall bestand ein Anspruch des FA auf Begleichung der Lohnsteuer durch Zahlung, nicht aber darauf, dem FA die Möglichkeit einer Erfüllung des Körperschaftsteuererstattungsanspruchs der Schuldnerin durch Aufrechnung zu verschaffen. Die Aufrechnungslage war vielmehr dadurch entstanden, dass die Schuldnerin die Lohnzahlung geleistet hat, ohne dass sich dies aus einem Rechtsverhältnis zwischen der Schuldnerin und dem FA ergeben hätte oder dieses darauf auch nur hätte Einfluss nehmen können.

Auch eine gesetzliche Privilegierung des FA gegenüber den anderen Insolvenzgläubigern bestand nicht. Ohne die ‑ eher zufällig entstandene - Möglichkeit der Aufrechnung hätte das FA die Steuererstattung zur Masse auszahlen müssen und die Lohnsteuerforderung gemäß §§ 174 ff. InsO zur Tabelle anmelden können.

Da das FA die Aufrechnung somit nicht wirksam erklärt hatte, war der Anspruch der Schuldnerin auf Erstattung von Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag zur Körperschaftsteuer für 2014 nicht gemäß § 47 AO erloschen.

Der BFH hob die Entscheidung der Vorinstanz auf und verwies den Streitfall an das FG zurück, weil das FG ‑ von seinem rechtlichen Standpunkt aus zu Recht - bislang keine Feststellungen zu den Voraussetzungen des geltend gemachten Zinsanspruchs getroffen hatte.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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