23.03.2012

Zollkodex: Zu den Folgen einer unzureichenden Sicherheit beim externen gemeinschaftlichen Versandverfahren

Mangelnde Sorgfalt der nationalen Zollbehörden kann zu einer den Erlass einer Zollschuld rechtfertigenden besonderen Lage führen. Dies ist der Fall, wenn die genannten Behörden eine Sicherheit akzeptieren, die nicht ausreicht, um eine Zollschuld abzusichern, die sich aus einer Gesamtheit von externen gemeinschaftlichen Versandverfahren ergibt.

EuGH 22.3.2012, C-506/09 P
Hintergrund:
Der Zollkodex der Union sieht für Nichtgemeinschaftswaren, die in das Gebiet der EU gelangen, die Möglichkeit des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens vor. In diesem Verfahren können die Waren unter zollamtlicher Überwachung im Zollgebiet befördert und erst an der Zollstelle des Bestimmungsorts in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt werden. Die Einfuhrzollschuld entsteht, wenn die Waren bei der Durchfuhr der zollamtlichen Überwachung entzogen werden. Allerdings kann eine Erstattung oder ein Erlass der aufgrund der Einfuhr entstandenen Zollschuld durch eine besondere Lage gerechtfertigt sein, die sich aus Umständen ergibt, die nicht auf betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten zurückzuführen sind.

Um die Erfüllung der Zollschuld sicherzustellen, die ggf. für eine dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren unterliegende Ware entsteht, hat derjenige, der dieses Verfahren in Anspruch nimmt (z.B. der Transporteur), eine Sicherheit zu leisten. Die Zollbehörden können insoweit die Leistung einer Gesamtsicherheit zulassen, die mehrere Vorgänge absichert, bei denen eine Zollschuld entsteht oder entstehen kann. Wenn sie feststellen, dass eine geleistete Sicherheit die Erfüllung der Zollschuld nicht oder nicht mehr sicher oder vollständig gewährleistet, verlangen die Zollbehörden vom Betroffenen nach dessen Wahl die Leistung einer zusätzlichen Sicherheit oder die Ersetzung der ursprünglichen Sicherheit durch eine neue.

Der Sachverhalt:
Die Klägerin ist ein portugiesisches Straßentransportunternehmen. Zwischen April und Oktober 1994 stellte die Zollbehörde von Xabregas (Portugal) als Abgangszollstelle dieser Gesellschaft 68 Versandanmeldungen aus für die Überführung in den freien Verkehr im Zollgebiet der Union von 64 Sendungen Tabak und 4 Sendungen Ethylalkohol, die dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren unterlagen. Nach der Beendigung des Versandverfahrens wurden gewisse Unregelmäßigkeiten festgestellt.

Die portugiesischen Behörden forderten die Klägerin daher auf, nachzuweisen, dass sie während des Versandverfahrens ordnungsgemäß und rechtmäßig gehandelt habe, und die entsprechenden Zollschulden zu begleichen. Die Klägerin, die von diesen Versandverfahren keine Kenntnis hatte, stellte fest, dass einer ihrer Angestellten betrügerisch gehandelt hatte, indem er, ohne ihr Wissen, Versandscheine für Schmuggelgeschäfte unterzeichnet hatte. Der betreffende Angestellte wurde entlassen und danach wegen fortgesetzten Vertrauensmissbrauchs verurteilt.

Das gegen die Klägerin eröffnete Strafverfahren wurde mit der Begründung eingestellt, dass sie von den Machenschaften ihres Angestellten nichts gewusst habe und dass ihre Bevollmächtigten an diesem Betrug nicht beteiligt gewesen seien. Daraufhin beantragte die Klägerin die Erstattung und den Erlass der aus der Einfuhr der 68 fraglichen Sendungen entstandenen Zollschuld. Die beklagte EU-Kommission wies den Antrag zurück. Die Gesellschaft habe sich nicht in einer den Erlass und die Erstattung der Zollschuld rechtfertigenden besonderen Lage befunden. Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer Klage.

Das EuG gab der Klage statt und erklärte die Entscheidung der Kommission für nichtig. Die portugiesischen Zollbehörden hätten für die 68 fraglichen Versandscheine eine unzureichende Sicherheit akzeptiert. Diese mangelnde Sorgfalt habe die Klägerin in eine besondere Lage gebracht, die nicht mehr unter das normale Geschäftsrisiko falle, das mit ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit verbunden sei. Das hiergegen gerichtete Rechtsmittel der Portugiesischen Republik hatte vor dem EuGH keinen Erfolg.

Die Gründe:
Das EuG hat zu Recht entschieden, dass die mangelnde Sorgfalt der portugiesischen Behörden - die die Unwirksamkeit der von der Klägerin eingerichteten Überprüfungsmechanismen zur Folge hatte - zu einer den Erlass der Zollschuld rechtfertigenden besonderen Lage geführt hat.

Das Handeln der und die Überprüfung durch die zuständigen nationalen Zollbehörden ist nicht nur im Zeitpunkt der Ausstellung der Bürgschaftsbescheinigung wesentlich, sondern auch bei der Leistung der zur Absicherung mehrerer Versandverfahren bestimmten Gesamtsicherheit. Obgleich der Zollkodex keine formelle Verpflichtung enthält, die Angemessenheit der Gesamtsicherheit zu überprüfen, haben die zuständigen Zollbehörden daher gleichwohl alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, wenn sie erkennen, dass zwischen dem Betrag der geleisteten Sicherheit und den Abgaben, die insgesamt für eine bestimmte Gesamtheit von Versandverfahren geschuldet werden, eine Abweichung besteht.

Das EuG hat zu Recht festgestellt, dass die von den Zollbehörden verlangte Sicherheit im vorliegenden Fall unangemessen war. Die tatsächlich geleistete Gesamtsicherheit sicherte nie mehr als 7,29 Prozent der geschuldeten Abgaben ab, während deren Betrag mindestens 30 Prozent der genannten Abgaben hätte absichern müssen. Zutreffend waren zudem die Ausführungen des EuG zum Kausalzusammenhang zwischen der fehlenden Wachsamkeit der genannten Behörden einerseits - die den Umstand zur Folge hatte, dass die Versandverfahren sämtlichen von den anwendbaren Rechtsvorschriften vorgesehenen Überprüfungsmaßnahmen entgingen - und dem Vorliegen einer besonderen Lage andererseits.

Das EuG hat entgegen der Auffassung Portugals nicht bestimmt hat, ob zwischen dem den Betrag der Gesamtsicherheit betreffenden Fehler und der Entstehung einer Zollschuld ein Kausalzusammenhang besteht. Es hat geprüft, ob der dem Rechtsstreit zugrunde liegende Sachverhalt eine den Erlass der Zollschuld rechtfertigende "besondere Lage" darstellen kann. Hätten die genannten Behörden ihre Pflichten hinsichtlich der Berechnung des Betrags der zu leistenden Gesamtsicherheit erfüllt, hätten die 68 Versandscheine somit nicht ausgestellt und die Gesamtheit der anschließend als betrügerisch bewerteten Geschäfte nie vorgenommen werden können.

Linkhinweis:

Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 30 vom 22.3.2012
Zurück