Zum Umfang der Bindungswirkung eines geänderten Grundlagenbescheids
BFH 21.1.2014, IX R 38/13Die klagenden Eheleute wurden im Streitjahr 1992 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Klägerin war u.a. Gesellschafterin einer vermögensverwaltenden GbR, die im Streitjahr Verluste aus Spekulationsgeschäften erzielte. Am 8.12.1994 wurde ein Feststellungsbescheid für 1992 erlassen, in dem der Klägerin u.a. ein Verlust aus Spekulationsgeschäften i.H.v. rd.584.000 DM zugewiesen wurde. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig, stand jedoch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Im daraufhin ergangenen (erstmaligen) Einkommensteuerbescheid 1992 vom 20.3.1995 blieb der Verlust im Hinblick auf die Vorschrift des § 23 Abs. 4 S. 3 EStG unberücksichtigt. Auch dieser Bescheid wurde - ebenso wie nachfolgende Änderungsbescheide - bestandskräftig, stand jedoch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.
Mit Einkommensteuerbescheid vom 20.11.2000 wurde der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben. Dieser Bescheid wurde nicht mit dem Einspruch angefochten und damit bestandskräftig. Die Einkommensteuer wurde auf rd. 680.000 DM festgesetzt. Am 27.10.2000 erließ das für die GbR zuständige Feststellungsfinanzamt einen geänderten Feststellungsbescheid für 1992, in dem für die Klägerin ein Verlust aus Spekulationsgeschäften i.H.v. rd. 588.000 DM enthalten war. Die entsprechende Mitteilung ging am 6.11.2000 beim beklagten Finanzamt ein. Dieses wertete die Mitteilung dahingehend aus, dass es am 1.3.2001 einen geänderten Einkommensteuerbescheid für 1992 erließ, den Spekulationsverlust aber weiterhin nicht berücksichtigte. Die Einkommensteuer wurde auf rd. 618.000 DM festgesetzt.
Die Kläger legten gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid 1992 Einspruch ein. Sie machten geltend, dass die Einschränkung der Verrechnung von Verlusten aus Spekulationsgeschäften nach § 23 Abs. 4 S. 3 EStG verfassungswidrig sei. Das Einspruchsverfahren ruhte zunächst. Nachdem der BFH in der Folgezeit entschieden hatte, dass Spekulationsverluste aus den Jahren vor 1999 grundsätzlich uneingeschränkt ausgleichsfähig sind, erließ das Finanzamt am 2.7.2010 einen geänderten Einkommensteuerbescheid für 1992, in dem es einen Spekulationsverlust i.H.v. rd. 4.400 DM berücksichtigte. Eine weitergehende Berücksichtigung des Spekulationsverlusts unterblieb. Die Einkommensteuer wurde auf rd. 616.000 DM festgesetzt.
Das FG wies die hiergegen gerichtete Klage, mit der die Kläger den Ansatz der Spekulationsverluste in voller Höhe begehrten, ab. Auf die Revision der Kläger hob der BFH das Urteil auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.
Die Gründe:
Das FG hat nicht weiter geprüft, ob der geänderte Feststellungsbescheid vom 27.10.2000 zugleich eine Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung enthielt und damit nach § 164 Abs. 3 S. 2 1. Halbs., § 181 Abs. 1 S. 1 AO wie eine erstmalige Feststellung der Einkünfte aus Spekulationsgeschäften zu werten ist. In diesem Fall sind die Besteuerungsgrundlagen nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO in vollem Umfang und ohne Bindung an in der Vergangenheit bereits erfolgte Übernahmen aus vorangegangenen Feststellungsbescheiden in den - mit dem Einspruch angefochtenen - Folgebescheid vom 1.3.2001 und damit auch in den an seine Stelle tretenden Folgebescheid vom 2.7.2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.7.2010 zu übernehmen.
Nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO ist ein Steuerbescheid (Folgebescheid) zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid, dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Grundlagenbescheid ist nach § 171 Abs. 10 S. 1 AO auch ein Feststellungsbescheid, soweit er für die Festsetzung einer Steuer bindend ist. Feststellungsbescheide (Grundlagenbescheide) sind u.a. für Steuerbescheide (Folgebescheide) bindend, soweit in ihnen getroffene Feststellungen für diese Folgebescheide von Bedeutung sind (§ 182 Abs. 1 S. 1 AO).
§ 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO lässt jedoch keine uneingeschränkte Aufhebung/Änderung des Folgebescheids zu, sondern nur eine der Bindungswirkung entsprechende Anpassung an den erlassenen, aufgehobenen oder geänderten Grundlagenbescheid. Die Aufgabe, den Folgebescheid an den Grundlagenbescheid anzupassen, rechtfertigt keine Wiederaufrollung der gesamten Steuerveranlagung; sie reicht nur so weit, wie es die Bindungswirkung des Grundlagenbescheids verlangt. 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO kann eine Änderung des Folgebescheids somit nicht bewirken, soweit der (geänderte) Grundlagenbescheid bezogen auf seinen Inhalt für den Folgebescheid nur mehr als "Wiederholung" zu werten ist.
Die Bindungswirkung ist jedoch unbeschränkt, wenn der geänderte Feststellungsbescheid zugleich eine Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung nach § 164 Abs. 3 S. 2 1. Halbs. AO enthält. Nach dieser Vorschrift gilt der geänderte Feststellungsbescheid als erstmalige Feststellung und damit als erstmalige Einzelfallregelung, der kein bloß wiederholender Charakter zuzumessen ist. Die durch die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung entstandene Bindungswirkung umfasst folglich den gesamten Grundlagenbescheid. Das gilt auch dann, wenn der Vorbehalt der Nachprüfung des Grundlagenbescheids aufgehoben wird, ohne dass eine sachliche Änderung des Grundlagenbescheids erfolgt.
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