09.06.2022

Zum Vertrauensschutz im Steuerrecht bei unecht rückwirkenden Gesetzen

Bei bilanzierenden Steuerpflichtigen ist Vertrauensschutz gegenüber unecht rückwirkenden Gesetzen nicht über mindestens zwei Veranlagungszeitraumwechsel hinweg zu gewähren. Der BVerfG-Beschluss Rückwirkung im Steuerrecht III vom 07.07.2010 - 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06 (BGBl I 2010, 925) ist nicht nur auf Arbeitnehmerabfindungen zugeschnitten. Die BVerfG-Beschlüsse Rückwirkung im Steuerrecht I vom 07.07.2010 - 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05 (BStBl II 2011, 76) und Rückwirkung im Steuerrecht II vom 07.07.2010 - 2 BvR 748/05 (BStBl II 2011, 86) sind wegen des Dualismus der Einkunftsarten auf Vermögenszuwächse im Gewerbebetrieb nicht übertragbar.

Kurzbesprechung
BFH v. 24. 2. 2022 - III R 9/20

EStG § 16, § 34 Abs 1, § 32a, § 52 Abs 47 S 1
GG Art 2 Abs 1, Art 3 Abs 1, Art 12, Art 14, Art 20 Abs 3


Streitig war, ob die auf einen gewerblichen Veräußerungsgewinn i.S. des § 16 EStG entfallende Einkommensteuer im Jahr 2000 aus verfassungsrechtlichen Gründen (zumindest teilweise) nur mit dem halben durchschnittlichen Steuersatz gemäß § 34 Abs. 1 EStG in der bis 1998 geltenden Fassung vom 29.10.1997 (EStG 1998) zu bemessen ist oder mit dem allgemeinen Steuersatz unter Berücksichtigung der sog. Fünftel-Regelung gemäß § 34 Abs. 1 EStG i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 vom 24.03.1999 (EStG 1999/2000, BGBl I 1999, 402).

Das FA wendete im streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheid für 2000 auf den Veräußerungsgewinn die Fünftel-Regelung gemäß § 34 Abs. 1 EStG 1999/2000 an und bemaß die Einkommensteuer mit dem allgemeinen Steuersatz gemäß § 32a EStG und nicht ‑‑wie beantragt‑‑ mit dem halben durchschnittlichen Steuersatz gemäß § 34 Abs. 1 EStG 1998 (1/2 von 53 %, dem Höchststeuersatz im Jahr 1998). Einspruch und Klage blieben erfolglos.

Auch der BFH hielt die eingelegte Revision für unbegründet und wies die eingelegte Revision als unbegründet zurück. Das FG hatte zutreffend entschieden, dass die Einkommensteuer auf den Veräußerungsgewinn nicht mit dem halben durchschnittlichen Steuersatz gemäß § 34 Abs. 1 EStG 1998 zu bemessen ist, sondern unter Berücksichtigung der Fünftel-Regelung gemäß § 34 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 47 EStG 1999/2000 mit dem allgemeinen Steuersatz gemäß § 32a EStG 2000.

§ 34 EStG und § 52 Abs. 47 Satz 1 EStG 1999/2000 sind formell verfassungsgemäß zustande gekommen. Die Vorschriften sind auch unter keinem entscheidungserheblichen Gesichtspunkt i.S. des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG und des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG materiell-rechtlich verfassungswidrig. Auch eine verfassungskonforme Auslegung oder eine teleologische Reduktion des Gesetzes waren im Streitfall nicht geboten.

Die Regelung in § 34 Abs. 1 EStG 1998, wonach die Einkommensteuer unter bestimmten Voraussetzungen mit dem halben durchschnittlichen Steuersatz zu bemessen war, ist gemäß § 52 Abs. 47 Satz 1 EStG 1999/2000 nur bis zum 31.12.1998 anwendbar. § 34 (Abs. 3) EStG n.F., wonach unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit zur Bemessung der Einkommensteuer auf Veräußerungsgewinne mit dem halben durchschnittlichen Steuersatz wieder eingeführt wurde, ist erst ab dem Veranlagungszeitraum 2001 anwendbar.§ 34 Abs. 1 und § 52 Abs. 47 EStG 1999/2000 sind nicht verfassungswidrig; sie entfalten in Bezug auf die Fallkonstellation des Streitfalls keine unzulässige Rückwirkung und sind insoweit mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar.

Im Streitfall lag keine Fallkonstellation vor, in der ein besonderer Dispositionsschutz greift, weil die Disposition zeitnah Wirkungen entfalten soll und getätigt wurde, bevor das Vertrauen der Steuerpflichtigen in den Fortbestand des Rechts zerstört wurde. Zeitnah bedeutet in diesem Zusammenhang innerhalb des bereits laufenden Veranlagungszeitraum oder spätestens nach einem Veranlagungszeitraumwechsel.

Im Streitfall hatte der der Besteuerung zugrunde liegende Vorgang vor Inkrafttreten der Neuregelung oder vor einem anderen maßgeblichen Zeitpunkt auch keinen gesteigerten Grad an Abgeschlossenheit erreicht. Die bloße Erwartung, etwaige Gewinne später zu einem ermäßigten Steuersatz versteuern zu können, begründete keinen gesteigerten Grad an Abgeschlossenheit. An einem gesteigerten Grad an Abgeschlossenheit am Stichtag mangelte es im Streitfall erst recht, wenn man ‑ was auch bei Gewinneinkünften in Betracht kommt - auf den Zufluss ab dem Jahr 2001 abstellen würde. Denn bei den Gewinneinkunftsarten, insbesondere bei den im Streitfall vorliegenden gewerblichen Einkünften sind Wertzuwächse grundsätzlich bis zuletzt steuerverhaftet.

Die bloße Hoffnung oder Erwartung, dass Vermögensgegenstände, auf denen stille Reserven ruhen, bis zur Betriebsaufgabe oder bis zur Veräußerung im Betriebsvermögen bleiben und die Einkommensteuer danach (nach altem Recht) zum halben durchschnittlichen Steuersatz bemessen werden wird, hat nichts mit einem besonderen Grad an Abgeschlossenheit des Vorgangs zu tun und ist auch im Übrigen nicht besonders schutzwürdig. Einen allgemeinen (Vertrauens-)Schutz vor zukünftigen steuerrechtlichen Änderungen in Bezug auf noch nicht realisierte und nicht verfestigte Wertsteigerungen im Bereich der gewerblichen Einkünfte gibt es nicht.

Der Gesetzgeber hat mit der Neuregelung des § 34 Abs. 1 EStG 1999/2000 auch nicht das Vertrauen in den Fortbestand einer befristeten (Übergangs-)Vorschrift enttäuscht. Zwar wurde im Zusammenhang mit der Herabsetzung des Höchstbetrags der dem halben Steuersatz unterliegenden Einkünfte von 30 Mio. DM auf 15 Mio. DM geregelt, welcher Höchstbetrag für 1998 bis 2000 (15 Mio. DM) und für den Veranlagungszeitraum 2001 und die folgenden Veranlagungszeiträume (10 Mio. DM) gelten sollte. Allerdings kann aus einer Regelung, durch welche lediglich die Höhe der begünstigten Einkünfte begrenzt wurde, nicht zwingend auf die Fortgeltung des ermäßigten Steuersatzes für außerordentliche Einkünfte für einen bestimmten Übergangszeitraum geschlossen werden.

Die für die Veranlagungszeiträume 1999 und 2000 geltende Regelung des § 34 Abs. 1 EStG 1999/2000 verstößt auch nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 GG. Letztlich ist auch die unterschiedliche einkommensteuerliche Behandlung von Wertsteigerungen im Privat- und im Betriebsvermögen infolge des Dualismus der Einkunftsarten mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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