Zur Anwendbarkeit der deutschen Rechtsvorschriften hinsichtlich der Gewährung von Kindergeld für einen polnischen Saisonarbeitnehmer
BFH 16.5.2013, III R 8/11Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und Vater der 1995 und 2000 geborenen Kinder A und S. Er lebt mit seiner Familie in Polen. Vom 30.5. bis zum 6.7. und vom 16.8. bis zum 12.10.2007 war der Kläger bei einem deutschen Unternehmen im Inland nichtselbständig beschäftigt. In seinem Heimatland Polen war er als Selbständiger sozialversicherungspflichtig.
In der von ihm eingereichten Einkommensteuererklärung 2007 beantragte er, als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt zu werden. Ausweislich der beigefügten Bescheinigung "EU/EWR" hatte er im Jahr 2007 in Polen keine steuerpflichtigen Einkünfte erzielt.
Im März 2008 beantragte er die Bewilligung von Kindergeld und gab hierbei u.a. an, dass seine Ehefrau für den Zeitraum September 2006 bis August 2007 polnische Familienleistungen bezogen habe. Außerdem legte er eine Lohnsteuerbescheinigung vor. Danach hatte er während seines Aufenthalts in Deutschland insgesamt rd. 4.200 € brutto verdient. Die beklagte Familienkasse lehnte den Antrag ab.
Das FG wies die hiergegen gerichtete Klage ab. Auf die Revision des Klägers hob der BFH das Urteil auf und verwies die Sache an das FG zurück.
Die Gründe:
Das FG ist rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass die deutschen Kindergeldvorschriften (§§ 62 ff. EStG) deshalb nicht anwendbar seien, weil der Streitfall gem. Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Art. 14a Nr. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 - ausschließlich - den polnischen Rechtsvorschriften unterlegen habe.
Nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG hat u.a. Anspruch auf Kindergeld, wer ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird. Die sich aus dieser Norm ergebende Anspruchsberechtigung entfällt nicht dadurch, dass eine Person gem. Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 nicht den deutschen Rechtsvorschriften, sondern nur den Vorschriften eines anderen Mitgliedstaats der EU unterliegt. An der gegenteiligen Auffassung, die der vorinstanzlichen Entscheidung zugrunde liegt und die auch der BFH bisher in ständiger Rechtsprechung vertreten hat, kann der Senat mit Blick auf die EuGH-Urteile in den Rechtssachen "Bosmann" sowie vom 12.6.2012 (C-611/10, C-612/10, Hudzinski und Wawrzyniak) nicht mehr festhalten.
Da somit eine europarechtlich begründete Sperrwirkung des Art. 13 Abs. 1 S. 1 der VO Nr. 1408/71 gerade nicht besteht, richtet sich die Anspruchsberechtigung auch bei Personen und bei Leistungen, die dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterliegen, allein nach den Bestimmungen des deutschen Rechts. Es bedarf nach Auffassung des Senats auch keines zusätzlichen nationalen Anwendungsbefehls.
Soweit sich das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG ergibt, ist weiter zu prüfen, wie eine Konkurrenz zu etwaigen von der Ehefrau des Klägers in Polen bezogenen Familienleistungen aufzulösen ist. Ist der persönliche Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet, muss geprüft werden, ob Deutschland nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 der zuständige oder der unzuständige Mitgliedstaat ist. Ist Deutschland danach der nicht zuständige Mitgliedstaat, was die Vorinstanz im Streitfall rechtsfehlerfrei angenommen hat, und ist Deutschland auch nicht der Wohnmitgliedstaat des betreffenden Kindes, dann ist die Konkurrenz zu Ansprüchen im anderen Mitgliedstaat Polen nach nationalem Recht zu lösen.
Die nationalen Vorschriften sehen in § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG zwar vor, dass Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt wird, für das Leistungen für Kinder, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der unter § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind, zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre. Die Auslegung dieser Vorschrift hat jedoch unter Beachtung der Anforderungen des Primärrechts der Union auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu erfolgen. Danach darf in einem Fall, in dem in einem anderen Mitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt werden, der Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG gem. § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG nur in entsprechender Höhe gekürzt, jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden, wenn anderenfalls das Freizügigkeitsrecht des Wanderarbeitnehmers beeinträchtigt wäre.
Linkhinweis:
- Der Volltext ist auf der Homepage des BFH veröffentlicht.
- Um direkt zum Volltext der Entscheidung zu kommen, klicken Sie bitte hier.