08.09.2017

Zur Umsatzsteuerbefreiung für Umsätze der ambulanten Pflege

Leistungen der sog. 24-Stunden-Pflege von privatrechtlichen Einrichtungen zur ambulanten Pflege waren in den Jahren 2005 und 2006 nur dann umsatzsteuerfrei, wenn im Vorjahr oder im jeweiligen Kalenderjahr die Pflegekosten in mindestens 40 % der Pflegefälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sind. Diese Einschränkung ist weder unionsrechtswidrig noch verfassungswidrig.

BFH 28.6.2017, XI R 23/14
Der Sachverhalt:
Der Kläger ist Krankenpfleger. Seit 1995 betrieb er als Einzelunternehmer einen ambulanten Pflegedienst. Zunächst widmete er sich mit ca. fünf angestellten Pflegekräften der klassischen Krankenpflege. Seit Ende der 1990er Jahre kam schwerpunktmäßig die sog. 24-Stunden-Pflege hinzu. Im Jahr 2003 gründete der Kläger die Z-GmbH, deren alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer er war. Sodann übernahm die GmbH den Geschäftsbereich der sog. 24-Stunden-Pflege. Am 29.7.2004 schloss die GmbH u.a. mit verschiedenen Pflegekassen, Krankenkassenverbänden und der Stadt Y als Sozialhilfeträger jeweils einen Versorgungsvertrag gem. § 72 SGB XI.

Bereits am 12.8.2003 (im Vorgriff auf diesen Versorgungsvertrag) und am 21.7.2005 (auf Basis des Vertrages) hatte die GmbH Vergütungsvereinbarungen mit den Vertragspartnern getroffen. Für die 24-Stunden-Pflege stellte die GmbH den gepflegten Personen entsprechend den getroffenen Vereinbarungen jeweils 2.750 € mtl. in Rechnung. In den Jahren 2004 bis 2006 wurde unstreitig die für eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG (in der für die Streitjahre 2005 und 2006 geltenden Fassung - a.F.) erforderliche 40-%-Grenze von der GmbH nicht erreicht. Ab Februar 2006 "verpachtete" die GmbH an W den aus einer Patientenliste ersichtlichen Patientenstamm. Der "Pachtzins" betrug inkl. "Mehrwertsteuer" 12.000 € mtl.; eine Rückübertragung von Verträgen zwischen Patienten und W an die GmbH war ausgeschlossen. Die Mitarbeiterinnen, die die vom Pachtvertrag betroffenen Patienten pflegten, waren weiter bei der GmbH angestellt, wurden jedoch an W ausgeliehen.

Durch Beschluss des AG von November 2006 wurde über das Vermögen der GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet und Rechtsanwalt E zum Insolvenzverwalter bestellt. Bereits mit Beschluss von September 2006 war Rechtsanwalt E zum vorläufigen Insolvenzverwalter der GmbH bestellt worden; Verfügungen der Schuldnerin waren nur noch mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam. Schuldnern der GmbH wurde verboten, an die GmbH zu zahlen. Der vorläufige Insolvenzverwalter wurde ermächtigt, Forderungen der GmbH einzuziehen sowie eingehende Gelder entgegenzunehmen. Das Finanzamt vertrat nach Durchführung einer Außenprüfung die Auffassung, dass der Kläger Organträger der GmbH sei. Es war außerdem der Auffassung, dass die Umsätze der GmbH nicht nach § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. steuerfrei seien, da die nach dieser Vorschrift erforderliche 40-%-Grenze für das jeweilige Vorjahr nicht erreicht worden sei.

Das FG gab der Klage, mit der der Kläger geltend macht, die Annahme der Organschaft sei wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtsformneutralität rechtswidrig und die ihm zuzurechnenden Umsätze der GmbH seien nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG steuerfrei, überwiegend statt. Auf die Revision des Finanzamts hob der BFH das Urteil auf und wies die Klage betreffend 2005 ab. Die Umsatzsteuer für 2006 ist unter teilweiser Aufhebung der Einspruchsentscheidung des Finanzamts und Abweisung der Klage im Übrigen insoweit niedriger festzusetzen, als die Umsätze der GmbH ab Eröffnung des vorläufigen Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen nicht mehr dem Kläger als Organträger zuzurechnen sind.

Die Gründe:
Nach § 4 Nr. 16 UStG a.F. waren in den Streitjahren 2005 und 2006 von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG fallenden Umsätzen steuerfrei u.a. die mit dem Betrieb der Einrichtungen zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen eng verbundenen Umsätze, wenn diese Einrichtungen von juristischen Personen des öffentlichen Rechts betrieben werden (vorliegend nicht der Fall) oder bei Einrichtungen zur vorübergehenden Aufnahme pflegebedürftiger Personen und bei Einrichtungen zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen im vorangegangenen Kalenderjahr die Pflegekosten in mindestens 40 Prozent der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sind.

Der Gesetzgeber ging davon aus, dass die Regelung in § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG entspricht. Die (in den Streitjahren geltende) Absenkung der ursprünglichen Zwei-Drittel-Grenze auf 40 % erfolgte zur Anpassung an die gesetzliche Neuregelung der Pflegeversicherung, um diese Grenze an die bei Krankenhäusern geltende Mindestgrenze für das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen anzugleichen. Vorliegend konnte die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. nicht zur Anwendung kommen, weil die Pflegekosten nicht "im vorangegangenen Kalenderjahr" in mindestens 40 % der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden waren.

§ 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. war in den Streitjahren auch insoweit nicht unionsrechtswidrig, als er die Steuerbefreiung von der Einhaltung der 40-%-Grenze (im selben Jahr) abhängig gemacht hat. Denn der EuGH hat die frühere Zwei-Drittel-Grenze des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. sowie die dort normierte Bedingung, dass die Kosten für die betreffenden Leistungen der ambulanten Pflege ganz oder zum überwiegenden Teil von den gesetzlichen Sozialversicherungs- oder Sozialhilfeträgern übernommen worden sein müssen, gebilligt. Der BFH hat deshalb entsprechende gesetzliche Grenzen nur insoweit als mit dem Unionsrecht unvereinbar beanstandet, als bei der Prüfung der Grenze auf die Umsätze des Vorjahres zurückgegriffen wird, und im Übrigen unbeanstandet gelassen.

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