Vorläufiger Rechtsschutz: Keine Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung bei Existenzgefährdung einer 100-prozentigen Tochtergesellschaft
OLG Düsseldorf v. 10.10.2022 - 26 W 5/22
Der Sachverhalt:
Die Antragstellerin ist ein deutsches Gashandelsunternehmen, das u.a. Stadtwerke und Industrieunternehmen in Deutschland mit Erdgas beliefert. Sie ist eine 100-prozentige Tochtergesellschaft der V-AG, an der die EnBW Energie Baden-Württemberg AG (EnBW) mehrheitlich beteiligt ist. Zwischen der Antragstellerin und der Muttergesellschaft als beherrschendem Unternehmen besteht ausweislich des Handelsregisterauszugs des AG X seit dem Jahr 2014 ein Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag.
Die Antragstellerin schloss mit der Antragsgegnerin, einer hundertprozentigen Tochtergesellschaft der PAO Gazprom (öffentliche Aktiengesellschaft nach russischem Recht), im Jahr 2019 einen Erdgasliefervertrag ab, der die Antragsgegnerin zur Lieferung von Erdgas an die Antragstellerin bis zum 1.1.2023 zu festgelegten Preisen verpflichtet. Lieferpunkt ist der sog. Virtual Trading Point Trading Hub Europe (VTP THE). Die Antragsgegnerin hat die vertraglich vereinbarten Liefermengen zunächst reduziert und am 31.8.2022 die Gaslieferungen vollständig eingestellt. Sie hat sich darauf berufen, aufgrund höherer Gewalt von ihrer Lieferverpflichtung befreit zu sein, da die drei zum Transport von Erdgas zur Verfügung stehenden Pipelines nicht mehr von ihr genutzt werden könnten und ihr ein Einkauf von Gas auf dem europäischen Markt nicht möglich sei.
Die Antragstellerin begehrt, im Wege der einstweiligen Verfügung die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Erdgaslieferungen an sie einstweilen bis zum 1.1.2023 - hilfsweise bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, höchst hilfsweise befristet bis zum 31.10.2022 und äußerst hilfsweise bis zur Bescheidung ihres Antrags auf staatliche Stützung nach § 29 EnSiG durch das BMWK - fortzusetzen gemäß den zwischen den Parteien vereinbarten Mengen und Konditionen.
Das LG wie den Antrag auf Erlass der einstweiligen Verfügung zurück. Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin hatte vor dem OLG keinen Erfolg.
Die Gründe:
Zu Recht hat das LG es abgelehnt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Verfügung zur Fortsetzung der Erdgaslieferungen nach Maßgabe der zwischen den Parteien getroffenen vertraglichen Vereinbarungen zu verpflichten, weil die strengen Voraussetzungen, die an eine solche, die Hauptsache vorwegnehmende Maßnahme zu stellen sind, nicht vorliegen.
Eine Vorwegnahme der Hauptsache ist mit Blick auf den vorläufigen Charakter des einstweiligen Verfügungsverfahrens als summarisches Erkenntnisverfahren grundsätzlich unzulässig. Insofern fehlt der nach §§ 935, 940 ZPO erforderliche Verfügungsgrund. Zur Verwirklichung des verfassungsrechtlich gebotenen effektiven Rechtsschutzes kommt allerdings dann eine Befriedigungsverfügung in vorweggenommener Erfüllung des Hauptsacheanspruchs in Betracht, wenn das Unterbleiben der einstweiligen Verfügung zu einer existenziellen Notlage oder zu irreparablen Schädigungen des Antragstellers führt und keine vergleichbaren Nachteile zulasten des Antragsgegners einzutreten drohen. Auch vorliegend kann die einstweilige Verfügung in Bezug auf den Hauptsacheanspruch daher nur bei einer andernfalls eintretenden existentiellen, irreparablen Schädigung der Antragstellerin ergehen. Nach Maßgabe dessen hat die Antragstellerin einen solchen Verfügungsgrund nicht mit Substanz dargelegt und glaubhaft gemacht.
Sie macht zwar geltend, die vertragswidrige Nichtbelieferung führe zu nicht auszugleichenden Nachteilen für ihre wirtschaftliche Existenz, die unmittelbar existenzbedrohend seien und daher auch Auswirkungen für die Versorgungsicherheit in Deutschland hätten. Sie sei gezwungen, mit Deckungskäufen auf dem Gasmarkt ihren bestehenden Lieferverpflichtungen gegenüber zahlreichen Stadtwerken und Industriekunden nachzukommen. Zu einer weiteren Ersatzbeschaffung werde sie in unmittelbarer Zukunft nicht mehr in der Lage sein, da ihr Eigenkapital bereits aufgebraucht und die noch verfügbare Liquidität binnen weniger Tage erschöpft sein werde. Von daher sei sie für ihr wirtschaftliches Überleben zwingend auf die Lieferung durch die Antragsgegnerin zu den vertraglich vereinbarten Konditionen angewiesen. Die wirtschaftlichen Belastungen durch die Mehrkosten beziffert sie indessen nur pauschal.
Ungeachtet dessen ist für die Annahme einer unmittelbaren Existenzbedrohung der Antragstellerin aber auch schon deshalb kein Raum, weil zwischen der Antragstellerin - 100-prozentige Tochter der V-AG - und der Muttergesellschaft ein - ausweislich des Handelsregisterauszugs des AG X ungekündigter und damit fortbestehender - Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag besteht. In Fällen, in denen zwischen der Antragstellerin und der Muttergesellschaft ein solcher Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag besteht, nach dessen § 3 Abs. 1 für die Verlustübernahme § 302 AktG gilt, lässt sich allein aus der finanziellen Situation der Antragstellerin eine Existenzgefährdung nicht herleiten.
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Justiz NRW
Die Antragstellerin ist ein deutsches Gashandelsunternehmen, das u.a. Stadtwerke und Industrieunternehmen in Deutschland mit Erdgas beliefert. Sie ist eine 100-prozentige Tochtergesellschaft der V-AG, an der die EnBW Energie Baden-Württemberg AG (EnBW) mehrheitlich beteiligt ist. Zwischen der Antragstellerin und der Muttergesellschaft als beherrschendem Unternehmen besteht ausweislich des Handelsregisterauszugs des AG X seit dem Jahr 2014 ein Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag.
Die Antragstellerin schloss mit der Antragsgegnerin, einer hundertprozentigen Tochtergesellschaft der PAO Gazprom (öffentliche Aktiengesellschaft nach russischem Recht), im Jahr 2019 einen Erdgasliefervertrag ab, der die Antragsgegnerin zur Lieferung von Erdgas an die Antragstellerin bis zum 1.1.2023 zu festgelegten Preisen verpflichtet. Lieferpunkt ist der sog. Virtual Trading Point Trading Hub Europe (VTP THE). Die Antragsgegnerin hat die vertraglich vereinbarten Liefermengen zunächst reduziert und am 31.8.2022 die Gaslieferungen vollständig eingestellt. Sie hat sich darauf berufen, aufgrund höherer Gewalt von ihrer Lieferverpflichtung befreit zu sein, da die drei zum Transport von Erdgas zur Verfügung stehenden Pipelines nicht mehr von ihr genutzt werden könnten und ihr ein Einkauf von Gas auf dem europäischen Markt nicht möglich sei.
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