19.06.2020

Zur Berechnung des Marktwerts von SAP-Call-Optionen nach der Insolvenz von Lehman-Brothers

Bei der Ermittlung des Marktwerts von SAP-Call-Optionen auf den Stichtag zwei Tage nach der Insolvenz von Lehman-Brothers ist die bestehende Möglichkeit einer Ersatzeindeckung für denselben Ausübungstag maßgeblich. Für das Vorliegen eines Markt- bzw. Börsenpreises ist entscheidend, dass die Möglichkeit besteht, sich anderweitig abzusichern. Vorliegend hätte die Möglichkeit einer Ersatzeindeckung bestanden, da davon auszugehen ist, dass am 17.9.2008 ein Markt für Ersatzgeschäfte vorhanden war.

OLG Frankfurt a.M. v. 14.5.2020 - 16 U 183/12
Der Sachverhalt:
Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Optionsgeschäft nach der Insolvenz von Lehman-Brothers. Zum Vermögen der Klägerinnen gehören SAP-Aktien. Die Beklagte gehört zur Lehman-Gruppe. Die Parteien schlossen im Oktober 2005 Optionsgeschäfte in Bezug auf SAP-Aktien ab. Die Klägerinnen räumten dabei der Beklagten das Recht ein, zu einem bestimmten Stichtag eine bestimmte Anzahl von SAP-Aktien zu einem bestimmten Kaufpreis (Ausübungspreis) zu erwerben. Die Kaufoption sollte als ausgeübt gelten, wenn der Börsenkurs der SAP-Aktien am Stichtag höher oder gleich dem vereinbarten Ausübungspreis sein würde; andernfalls sollten die Optionen verfallen.

Am 15.9.2008 wurde über das Vermögen der Beklagten das Insolvenzverfahren eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt waren noch Optionsgeschäfte mit Ausübungsstichtag 18.12.2009 über jeweils 2 Mio. SAP-Aktien zum Kaufpreis i.H.v. 36,10 € je Aktie offen. Der Schlusskurs der SAP-Aktie belief sich am 15.9.2008 auf 38,15 €, am 18.12.2009 - dem eigentlich vorgesehenen Stichtag - auf 32,205 €. Die Klägerinnen beantragten zunächst die Feststellung, dass der Beklagten nach der Lehman-Insolvenz keine Zahlungsansprüche aus diesen Optionsgeschäften gegen sie zustünden. Die Beklagte verlangte widerklagend von jeder der beiden Klägerinnen Zahlung eines Ausgleichsbetrags i.H.v. knapp 13 Mio. € Zug um Zug gegen Übertragung der verpfändeten Aktien. Den Klägerinnen sei durch die Befreiung von dem Optionsgeschäft ein finanzieller Vorteil und ihr, der Beklagten, durch die vorzeitige Beendigung ein Nachteil entstanden. Nach Erhebung der Widerklage haben die Klägerinnen die Feststellungsklage in der Hauptsache einseitig für erledigt erklärt.

Das LG wies die Widerklage ab; das OLG gab ihr im Wesentlichen statt. Auf die Revision der Klägerinnen hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache an das OLG zurück und wies es zu einer Neuberechnung unter Zugrundelegung eines im Wege der Beweisaufnahme zu klärenden Marktwerts der Optionen am 17.9.2008 an. Für den Marktwert sei nicht die Handelbarkeit der Optionen, sondern die bestehende Möglichkeit einer Ersatzeindeckung für denselben Ausübungsstichtag maßgeblich.

Das OLG gab der Widerklage erneut statt. Die Revision wurde nicht zugelassen. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Die Klägerinnen können mit der Nichtzulassungsbeschwerde die Zulassung der Revision begehren.

Die Gründe:
Die Beklagten haben Anspruch auf den geltend gemachten Zahlungsanspruch i.H.v. knapp 13 Mio. € gegenüber jeder Klägerin, insgesamt 26 Mio. €.

Die Klägerinnen schulden der Beklagten den vollen Marktwert der Optionen zum Insolvenzzeitpunkt. Infolge der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vor dem vereinbarten Stichtag endete das Finanzgeschäft automatisch. Will eine Partei, hier die Klägerinnen, weiterhin am vereinbarten Stichtag zur Lieferung von Wertpapieren verpflichtet sein, muss sie ein Ersatzgeschäft abschließen. Der Ersatzbeschaffungsaufwand oder -gewinn, der bei Wiedereindeckung durch ein vergleichbares Neugeschäft entsteht, drückt das Risiko des Wegfalls des Vertragspartners betragsmäßig aus. Dieser Ersatzbeschaffungsaufwand bzw. -gewinn ist der Markt- bzw. Börsenpreis des Vertrags. Deshalb ist für den Marktpreis die bestehende Möglichkeit einer Ersatzeindeckung für denselben Ausübungstag maßgeblich.

Für das Vorliegen eines Markt- bzw. Börsenpreises ist entscheidend, dass die Möglichkeit besteht, sich anderweitig abzusichern. Hier hätte für die Klägerinnen am 17.9.2008 die Möglichkeit einer Ersatzeindeckung bestanden. Nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens ist davon auszugehen, dass am 17.9.2008 ein Markt für die Ersatzgeschäfte vorhanden war. An diesem Tag herrschte zwar wegen der zwei Tage zuvor eingetretenen Lehman-Insolvenz ein besonderes Marktumfeld. Das Vertrauen in die Stabilität von Banken und Versicherungen war massiv beschädigt. Die großen Banken hatten erhebliche Liquiditäts- und Eigenkapitalprobleme. Dennoch ist laut Sachverständigem davon auszugehen, dass sowohl der Aktienmarkt als auch der Aktienderivatemarkt vorhanden waren und SAP-Aktien sowie SAP-Aktienoptionen gehandelt wurden.

Es ist auch davon auszugehen, dass es Banken gab, die Interesse an dem streitgegenständlichen Ersatzgeschäft gehabt hätten. Der Erwerb der Call-Optionen am 17.9.2008 konnte - auch auf Basis der Sachverständigenangaben - eine attraktive Anlage darstellen. Ein Optionskäufer hätte von künftigen Aktienkursbewegungen profitieren können. Diesen möglichen Ersatzgeschäften hätte auch nicht die Gefahr eines Leerverkaufsverbots entgegengestanden. Laut Sachverständigem hatten die Ersatzgeschäfte einen Marktwert von 6,84 € je Option, welcher auch für diesen Tag nach der in der Praxis verbreiteten Black-Scholes-Formel ermittelt werden kann. Da ein Teilbetrag des sich damit insgesamt errechnenden Ausgleichsanspruchs i.H.v. je 13,68 Mio. € gegenüber jeder Klägerin verjährt ist, kann die Beklagte noch knapp 13 Mio. € jeweils von beiden Klägerinnen verlangen.
OLG Frankfurt a.M. PM Nr. 52 vom 17.6.2020
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