19.12.2024

Achtung des Privat- und Familienlebens - Serbien: Erfolglose Verleumdungsklage einer Anwältin wegen Presseartikels

Der EGMR betont erneut die Gleichwertigkeit der Rechte aus Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und 10 (Meinungsfreiheit) EMRK sowie den Schutz journalistischer Quellen als ein Eckpfeiler der Pressefreiheit. (Kajganić gegen Serbien)

EGMR v. 8.10.2024 - 27958/16
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin ist eine in Belgrad tätige Anwältin. Zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt vertrat sie X in einem Strafverfahren im Zusammenhang mit der Ermordung des serbischen Premierministers Đinđić im März 2003. Im Jahr 2004 veröffentlichte die Wochenzeitschrift Vreme einen von Y verfassten und mit einem Foto der Beschwerdeführerin versehenen Artikel mit dem Titel "Geschäftspartner, Anwälte und alte Kumpel". Dieser bezog sich unter anderem auf das Transkript eines vom serbischen Amt zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität aufgezeichneten Telefonats, das angeblich zwischen der Beschwerdeführerin und X stattgefunden hatte. Darin habe die Beschwerdeführerin behauptet, dass sie X als Gegenleistung für seine Falschaussage im Verfahren durch "ihre alten Kumpels", "die beiden mächtigsten Männer des Landes", den Status eines kooperierenden Zeugen gesichert habe. Die beiden Männer wurden in dem Artikel als der damalige Innenminister und der damalige Leiter des Büros für öffentliche Sicherheit benannt.

In einem anderen Presseorgan wurde kurz darauf eine Erklärung von Y veröffentlicht, wonach er selbst über keine Kopie des Transkripts des fraglichen Telefonats verfüge. Er habe die Informationen von einer vertrauenswürdigen Quelle erhalten, deren Identität er jedoch nicht preisgeben könne. In einem internen Bericht hielt der Direktor des Amts zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität im Folgenden fest, dass das Telefon des X auf Anordnung von Ermittlungsrichtern abgehört worden war und dass Y in Teilen seines Artikels unwahre Informationen und Aussagen veröffentlicht hatte, die auf Vermutungen beruhten.

Die Beschwerdeführerin, die zwischenzeitlich von Dritten bedroht worden sein soll, leitete daraufhin ein Zivilverfahren gegen Y ein und forderte Schadensersatz wegen der durch die in seinem Artikel aufgestellten Behauptungen verursachten Schädigung ihrer Ehre und ihres guten Rufs. Zudem schrieb sie an den Herausgeber von Vreme und bestritt die in dem Artikel dargelegten Anschuldigungen. Ihre Gegendarstellung wurde zu einem späteren Zeitpunkt von Vreme veröffentlicht. Auch machte die Beschwerdeführerin öffentlich bekannt, dass X nicht den Status eines kooperierenden Zeugen genösse, sondern Angeklagter im Verfahren sei. Nachdem die Beschwerdeführerin mit ihrer Klage erstinstanzlich teilweise Erfolg hatte, wurde das Urteil im von Y angestrengten Rechtsmittelverfahren aufgehoben und die Klage abgewiesen. Eine dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin blieb ohne Erfolg. In einem von der Beschwerdeführerin zusätzlich angestrengten Strafverfahren wegen Verleumdung wurde Y freigesprochen.

Die Gründe:
Der EGMR betonte einleitend erneut und unter Bezug auf seine ständige Rechtsprechung die Gleichwertigkeit der Rechte aus Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und 10 (Meinungsfreiheit) EMRK und das Erfordernis eines theoretisch gleichen Ermessensspielraums in Bezug auf beide Rechte für die innerstaatlichen Behörden. Der Gerichtshof wiederholte mit Blick auf Art. 8 EMRK zudem, dass dieser in Fällen von Verleumdung nur zum Tragen kommt, wenn ein Angriff auf den guten Ruf einer Person ein gewisses Maß an Schwere erreicht und in einer Weise erfolgt, die die personenbezogene Wahrnehmung des Rechts auf Achtung des Privatlebens beeinträchtigt. Die Schwere der erforderlichen Beeinträchtigung müsse sich so schwerwiegend auf das Privatleben auswirken, dass die persönliche Integrität untergraben wird. Dies sei bei einem Artikel, in dem behauptet wird, dass eine Anwältin dafür gesorgt habe, dass ihrem Mandanten in einem Strafverfahren im Zusammenhang mit der Ermordung des Premierministers im Gegenzug für eine Falschaussage der Status eines kooperierenden Zeugen gewährt wurde, der Fall. Eine solche Behauptung könne den guten Ruf der Beschwerdeführerin schädigen und ihr sowohl in ihrem beruflichen als auch in ihrem sozialen Umfeld Schaden zufügen.

Vorliegend hätten die fraglichen Informationen jedoch eindeutig eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse betroffen und zu einer öffentlichen Debatte beigetragen, nicht zuletzt, weil sie mit dem Strafverfahren im Zusammenhang mit der Ermordung des serbischen Premierministers und behaupteten Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit einer Zeugenaussage in diesem Verfahren in Verbindung standen und daher von ernsthaftem öffentlichem Interesse und Belang gewesen seien. Die Veröffentlichung dieser Informationen sei ein wesentlicher Bestandteil der Aufgabe der Medien in einer demokratischen Gesellschaft.

Die Beschwerdeführerin sei zwar keine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, aber als Rechtsvertreterin eines der Angeklagten in einem aufsehenerregenden Strafverfahren in der Öffentlichkeit bekannt geworden und könne daher nicht als gewöhnliche Privatperson angesehen werden. Sie habe damit rechnen müssen, dass es Presseartikel über sie in ihrer beruflichen Eigenschaft geben würde. Der beschwerdegegenständliche Artikel habe auch keinen grundlosen personenbezogenen Angriff auf sie dargestellt, sondern sich vielmehr mit einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse befasst, und er habe sich nur auf die berufliche Tätigkeit der Beschwerdeführerin und nicht auf andere Aspekte ihres Privat- oder Familienlebens konzentriert.

Unter Bezug auf den Schutz journalistischer Quellen als einer der Eckpfeiler der Pressefreiheit bekräftigte der EGMR weiterhin, dass das Recht von Journalisten, ihre Quellen nicht preiszugeben, einen wesentlichen Bestandteil des Rechts auf Information darstelle. Y habe vorliegend Informationen veröffentlicht, die er von einer vertraulichen Quelle erhalten hatte und von deren Richtigkeit er ausgegangen war. Auch sei er seiner Sorgfaltspflicht nachgekommen, indem er die fraglichen Informationen überprüft hatte. Zudem habe die Beschwerdeführerin selbst die Gelegenheit gehabt, die betreffenden Behauptungen zurückzuweisen, und diese Zurückweisung sei von demselben Medienunternehmen ordnungsgemäß veröffentlicht worden, welches den beschwerdegegenständlichen Artikel publiziert hatte.

Der EGMR verneinte daher einstimmig eine Verletzung von Art. 8 EMRK, bejahte jedoch einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).
Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)
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